"flichst mit worten horizont"

Werbung
Werbung
Werbung

"Christine Lavants Sprache ist erstaunlich modern, an gewissen Stellen auch hermetisch. Ihre Gedichte verdienen es, immer wieder entdeckt zu werden."

Bereits seit 18 Jahren wird der 21. März als Welttag der Poesie begangen, um die kulturelle Relevanz lyrischen Schreibens zu unterstreichen und Gedichte als Ausdruck moderner Welterfahrung begreifbar zu machen. Lyrik ist zu einem Minderheitenprogramm geworden, was bedauerlich ist. Denn es ist wohl so, dass sich in Gedichten die Auseinandersetzung mit dem Sein besonders prägnant konzentriert. In der Gegenwartslyrik spiegelt sich jedenfalls eine erfrischende Vielfalt wider - hinsichtlich literarischer Zugänge, thematischer Ausrichtungen, Intentionen sowie sprachlicher Form der Weltaneignung.

Der österreichische Dichter Ludwig Hartinger präsentiert in seinem Band "SCHATTEN SÄU-MEN" Lyrik als Fortsetzung seines "dichterischen Tagebuchs" aus den Jahren 2012 bis 2017. Formal gesehen handelt es sich dabei um einen durchgehenden, zumeist aus Quartetten bestehenden lyrischen Text. Hartinger konzentriert sich auf die Natur, aber auch auf Nachbilder aus Träumen oder Augenblicksstimmungen: "momente sind es /fremdnah wie nahfremd /und immer leib eigen". Dabei bedient er sich einer mutigen Sprache und verbindet kontemplative Bilder mit poetischen Wortneuschöpfungen. Grammatiksprünge bringen eine schwebende Ebene in den Satzbau: "mahlen mühlen den weißen /tag wolken ziehen übers grat /flichst mit worten horizont /färbst in lauten einen traum". Hartingers Lyrik ist geprägt von einer geschärften synästhetischen Wahrnehmung und einem schrägen Blick auf die Welt. So findet er eine neue Sprache für das Alltägliche in der Natur, für das, was im Fluss der Zeit schlicht und unscheinbar erscheint, aber bestaunt werden kann, wenn man es betrachten lernt.

Aus Lavants Nachlass

Einen völlig anderen Zugang zum Leben bietet die 1973 verstorbene Kärntner Autorin Christine Lavant, deren "Gedichte aus dem Nachlass" in einer Auswahl als dritter Band einer Werkausgabe bei Wallstein erschienen sind. Drei Viertel der Texte waren bislang noch unveröffentlicht.

Ein editorischer Kommentar gewährt einen hilfreichen Einblick in die Textsituation und in den Entstehungskontext der Gedichte. Zum Schreiben ist Lavant über Umwege gekommen. Bei einem Krankenhausaufenthalt wird ein Arzt auf das Talent der jungen Christl Thonhauser aufmerksam. Gemeinsam mit seiner Frau wird er zu ihrem ersten Förderer.

Lavants Gedichte lassen eine starke religiöse Grundierung erkennen, die aber zugleich auch zu einer kritischen und heftigen Auseinandersetzung mit dem Glauben wird. Titel oder Verse wie "An den verweigerten Gott" zeugen davon. Manche dieser lyrischen Texte muten auf den ersten Blick fast wie Gebete an, getragen von Demut, zugleich aber auch gepaart mit einer gnadenlosen Bestandsaufnahme: "Gott zieht in seinem großen Garten /die wunderlichsten Armut-Arten .../ Da sind die fahlen Hungerhügel, / die schwarzen Falter Schmerzensflügel, / ..."

Neben dem Kirchenjahr mit seinen Festen dokumentiert Lavant die mit dem bäuerlichen Milieu verbundenen Nöte und Entbehrungen. Zu existenziellen Erfahrungen wie dem Tod der Mutter gesellen sich aber auch Impressionen von Reisen oder Streifzüge durch die Natur in einer bizarren, verhaltenen Bildsprache: "Jäh hebt sich der Bäume schüchterne Zeile /wie hilflos ins plötzlich vergossene Licht, / das gläsern und alt aus dem Himmel sich bricht." Anklänge an Trakl oder Rilkes Dinggedichte -hier ist es beispielsweise ein Feldkreuz oder eine letzte Rose -sind immer wieder spürbar. Lavants Sprache ist erstaunlich modern, an gewissen Stellen auch hermetisch. Ihre Gedichte verdienen es, immer wieder entdeckt zu werden.

Dorothea Nürnberg ordnet die Texte in ihrem Lyrikband "Herzwortweben" ähnlich wie der Naturalist Arno Holz um eine "imaginäre Mittelachse" an. Manchmal scheren die Worte aus und lassen, grafisch gesehen, Treppenbilder entstehen. Die (bedrohte) Natur in leuchtenden, irisierenden Bildern steht oft im Zentrum dieses schmalen Bändchens: "holunderbeere / blutet /geheimnis // waldraunen / ficht /leiser an // laub und moder /decken /feenränder // sommerblüte /klage lauschend // abgesang". Aber auch feinsinnige Reflexionen über die Liebe ("herzkuss /trifft /mitte"), über Freiheit, Zäune oder Worte lassen die Welt - auch ob der Kriege -als aus den Fugen geratene "welten achterbahn" erscheinen, gegossen in eine komprimierte Textpartitur.

Paradox, Wortspiele und Brüche

Semier Insayif, der für seine sprachexperimentellen Zugänge zur Lyrik bekannt ist, arbeitet in seinen "über zeugungen" erneut mit Paradoxa, Wortspielen und Brüchen, um der Sprache neue, bunt changierende Bedeutungsdimensionen zu entlocken: "als muster ohr /ein klang sich /bogen nah und /ab (zu zeichnen) / und zu halten /zu zu sp // ringen / reizen /ritzen /rachen /rechen / reu". Außerdem kreiert Insayif anregende "echos resonanzen" zu Gedichten bekannter Autoren. Mit seinen lyrischen Texturen sind wache Sinne und ein avantgardistisches Sezieren der Sprache untrennbar verbunden. "auf wachen / ein hören als ob /deine stirn im rachen /unser verstörtsein verstünde als periskop".

In seinem Sonettenkranz "herzkranzverflechtung" nähert sich Insayif der Liebe, der Lust -gepaart mit einem unverhohlenen Blick ins Innere auf Körper-und Fleischliches -, wobei das Herz vordergründig als Schauplatz fungiert. Dabei variiert er Verszeilen von Petrarca, Rilke oder etwa Brecht und verbindet sie mit neuen Kontexten, indem er das "herzgeschehen" nahezu anatomisch öffnet und poetisiert. In einzelnen prosalyrischen Sequenzen reflektiert er in unterschiedlichen thematischen Zugängen aber auch "die lust des textes" etwa als Imagination des "verlorengehen[s] des lesers seiner leserin ihres /verstandes ihrer haltegriffe und herzen das lauschen zwischen silben das kauen an buchstaben laut und leise".

Michael Krüger, der langjährige Leiter des Hanser Verlags, verortet in seiner Lyrik "Einmal einfach" Fragen des Alltags, Reisereminiszenzen oder Reflexionen über das Leben, die Gesellschaft und den Tod in einer einfachen, bestechend klaren Sprache. In diesen vier Kapiteln kreuzen sich Tiefgründiges, aber auch Philosophisches mit Realitätsfragmenten und poetischen Spuren. "Ich habe den weißen Mantel berührt /und unter dem Mantel zwei warme Länder, / Arm und Reich, in meiner erfrorenen Hand." Ein zentrales Motiv stellt die Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von Leben und Tod dar: "Das Leben, heißt es, wird vom Tod erwärmt. / Stimmt das? Der Kehraus kann beginnen." Zwei Bäume vor dem Fenster nehmen dem lyrischen Ich die "Weite", ja werden zu "grünen Wächtern" und machen ihm schmerzlich bewusst, dass sein Leben "kürzer sein wird als das ihre".

Ein Zyklus ist ganz dem Reisen gewidmet, aber auch hier triftet Politisches, Sozialkritisches und Historisches in den Text, dann etwa, wenn still gelegte Gleise "an den Handel mit Menschen" erinnern. Bleibt nur mehr, "zwischen den Gleisen /das Weite, das ins Land gegangen ist", zu suchen. Dann ist da auch eine Erinnerung an einen geschichtsträchtigen Augenblick am "Tag der Deutschen Einheit", damals in Córdoba, als sich die Hoffnung plötzlich nährt, "es könnte sich eine Zukunft vorstellen vor dem Tod". Krüger zeigt sich in seiner Lyrik als achtsamer und genauer Chronist des Alltags, der mit Gespür einzelne Momente aus der Zeit heraushebt und ihnen damit noch einmal besondere Bedeutung verleiht.

Poetisch verknotet

Zehn Jahre sind seit seiner letzten Buchveröffentlichung vergangen. Raphael Urweider, ein Schweizer Dichter und Musiker, hat nun erneut Lyrik publiziert. In "Wildern", so der Titel, beschreibt er Orte, Städte, Länder, Fährten durch Wälder, exotische Früchte - kunstvoll, mehrdimensional in unterschiedlichen Weltwahrnehmungen. Auch wenn sich immer wieder schillernde Bilder durch seine Texte mäandern und sie poetisch verknoten, lässt sich deutlich ein reflexiver Sprachduktus ausnehmen, der auch Armut, Feindbilder, Klassenkämpfe, Dunkles oder Hässliches in den Fokus rückt. Shanghais "angebrochene häuserzeilen" muten "wie kariöse gebisse" an, Brüssel zeigt sich als "fremdsprachige / überverwaltete naturkatastrophe". Der "weltenbürger" folgt einem Sonnenuntergang rund um den Globus und dann tauchen wieder beispiellose Erinnerungen aus der Kindheit auf. Urweider gelingt es, das Leben prägnant zu verdichten ("knospen sind geduld verlangende versprechen") und Unauffälliges mit Ungeheuerlichem in Balance zu bringen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung