Wortmüll als Gärboden

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36 Autorinnen und Autoren stellen Material und Kommentar zu einem ihrer Gedichte für eine Anthologie zur Verfügung.

Nicht selten stellt sich beim Lesen von Lyrik die Frage, welcher Erfahrungsraum dem Gedicht wohl vorausgegangen ist. Welchem Boden ist es entwachsen, welches Sujet hat die kunstvoll gewachsene Metapher gezeugt?

Schon immer hat die Reflexion literaturwissenschaftlicher Methoden auch den Entstehungsprozess eines Textes und das Phänomen der Autordimension beleuchtet. Goethe hat nie lange herumgefackelt und in "Dichtung und Wahrheit" bereitwillig Einblick in diverse Werkzusammenhänge gewährt. Aber auch sonst studieren Interpreten gerne Briefe, Tagebücher oder andere Quellen, um Texten nachhaltig auf den Grund zu kommen. Dass dabei voreilig Realität und Fiktion vermischt werden können, ist nur eine der Gefahren.

Das Gedicht spricht

In den Hölderlin Ameisen wird nun eine ähnliche Gratwanderung unternommen: 36 Autoren/innen stellen Material und Bemerkungen zum lyrischen Konstruktionsprozess für eine Anthologie zur Verfügung. "Das Gedicht spricht, das Material sagt etwas, der Kommentar erläutert", schreibt der Herausgeber Manfred Enzensberger im Vorwort. In der Tat gibt dieses Buch auf äußerst interessante Weise Einblick in das Davor und Dahinter, in daneben Liegendes oder Erblicktes, in Gelesenes oder Gesehenes. Dass die Autoren/innen auf völlig unterschiedliche Weise an diese Aufgabe herangehen, unterstreicht den Reiz dieses Bandes.

Einige skelettieren den Text, öffnen Verschlüsse und Deckel des Textkörpers, sichten, ordnen und kommentieren alles Verwendete. Aber es kann auch sein, dass der erklärende Text zu einem neuen Stück Literatur wird, dann in Prosa, wenn eine direkte Annäherung an die Verszeilen verweigert wird. Oder das Gedicht fällt aus, so bei Oswald Egger, der offen zugibt, nicht dafür zu taugen, sich "der Sachen und Bezüge ihrer Wörter zu versichern". Ebenso ist der Blick auf die Inszenierung des Materials manchmal rätselhaft, "schamhaft umhüllt", "geschützt", dann wieder scharf und unprätentiös klar oder "freizügig, im Textschatten entkleidet", wie Enzensberger sagt. Er versucht ob der Angreifbarkeit des Projekts mit der Frage, ob der Autor überhaupt etwas über die Entstehung seines Textes sagen könne und - mit dem Material - nicht im freien Spiel der Signifikanten verschwinden würde, möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Was sagt ein Gedicht dem Leser nun in Begleitung eines Kommentars?

Der Band ist jedenfalls nicht nur für Literaturwissenschaftler interessant. Schon die Fülle des zur Verfügung gestellten Materials ist beeindruckend. Die breite Palette reicht von Fotos, Karten, Zeitungsausschnitten und Typoskripten bis zum simplen Tetrapack. Da kann, wie bei Ilma Rakusa, ein achtlos hingeworfenes Dessous als zündender Funke für eine lyrische Idee fungieren, dem immer wieder neu drapiert und fotografiert eine lyrische Geschichte erfunden wird. Bei Lutz Seiler erfahren wir von fein säuberlich zerschnittenen Textschnitzeln, jahrelang konserviert im Einweckglas. Die Verschränkung eines Hölderlingedichtes mit exemplarischen Sätzen aus einer theoretischen Abhandlung über kamikazebereite Ameisen, die durch diesen Akt angreifende Feinde töten, zeigt Dieter M. Gräf als "Reaktion auf den 11. September". Brigitte Oleschinski schlägt thematisch in dieselbe Kerbe. Immerhin stellt sie ihrem zweizeiligen Text (Über / die aus den Fenstern stürzenden Kommas, klein / wie Menschen, keins -) einen sechsseitigen aufschlussreichen Kommentar zur Seite.

Marcel Beyer gräbt auf gewohnte Weise in der Vergangenheit und entlarvt in Text und Material eine Blutspur, die die weite Landschaft im Dreiländerdreieck bei Aachen tränkt, als es hier noch einen "300 km langen Starkstromzaun" gegeben hat. Heute genießt man vom Aussichtsturm den Panoramablick, den Todeszaun gibt es in der kollektiven Erinnerung nicht mehr.

Reizwort-Impulse

Einen völlig anderen Weg beschreitet Felix Philipp Ingold. Ihm dient ein beliebiges, im "mobilen Archiv" (Notizbuch) abgelegtes Reizwort als lyrischer Impulsgeber: "Der Mist, der alltägliche Wortmüll ist Nährboden und wird darüber hinaus, ohne dass man' es sich versieht, zum Füllstoff, zum Gleitmittel, zur Gärsubstanz des Gedichts." Manchmal sind es natürlich auch Stimmungen, Gefühle, Reisen, Zeitungsberichte oder zufällig in die Hände gefallene Fotos oder Bilder, die den Anstoß zum Gedicht geben.

Dieser durchwegs aufschlussreiche und anschauliche Band eröffnet dem Rezipienten mit Hilfe des Kommentars eine zweite, neue Lesart der Gedichte. Die Informationen, die oft nur Splitter in einem Puzzle bleiben, ermöglichen eine andere Sichtweise und geben in den Auseinandersetzungen mit dem "ErFinden" von Poesie einen lohnenden Einblick in die vielfältigen Arten literarischer Schöpfung und lyrischen Arbeitens.

Die Hölderlin Ameisen

Vom Finden und Erfinden der Poesie

Hg. von Manfred Enzensberger

DuMont, Köln 2005

256 Seiten, geb., e 19,90

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