Mayröcker - © Foto: APA / Herbert Neubauer

Friederike Mayröcker: „Es geht um NICHTS und es geht um ALLES“

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Im Dezember ist die große Schriftstellerin Friederike Mayröcker 96 Jahre alt geworden. Ihr Alterswerk ist kühner denn je, so auch ihre neue Veröffentlichung „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“.

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Im Dezember ist die große Schriftstellerin Friederike Mayröcker 96 Jahre alt geworden. Ihr Alterswerk ist kühner denn je, so auch ihre neue Veröffentlichung „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“.

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Innovation ist schon ihr Credo, als sie zu schreiben beginnt. Das Bedürfnis, sich in der Kunst ganz dem Experiment hinzugeben, hat sie bis heute nicht verlassen. Die große österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker hat im Alter von 96 Jahren erneut eine Publikation herausgebracht, für die ein gewisses Alter, wie sie selbst meint, überhaupt erst die Voraussetzung gewesen sei. Schon mit dem langen Titel „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ akzentuiert Mayröcker das Ungewöhnliche, denn er scheint geradezu mitten aus einem poetischen Satz herausgelöst worden zu sein.

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Der Blick aus dem Fenster hat auch mit dem Blick auf ihre Schreibwelt zu tun, die sie permanent mit Gelesenem, Exzerpiertem, Erträumtem, mit sich ineinanderschiebenden Erinnerungen oder Wahrnehmungen anreichert und in ihren Texten offenlegt. All das Genannte fließt ununterbrochen in ihre Arbeiten ein, weil bei ihr, wie man weiß, Leben und Schreiben einander fortwährend und immerzu osmotisch durchdringen.

Alles, was sie umgibt, rauscht in diese Texte hinein, wird aufgesaugt, literarisiert. Musik, Literatur, punktuell blitzen sogar Splitter aus dem modernen Alltag auf.

Mayröckers Schriften sind Traumschriften, in denen herkömmliche grammatische Strukturen mit jedem neuen Werk extremer ausgehebelt werden. Diesmal bringt sie in diesem Kontext den Begriff Nature Writing quasi als „Modewort“ ins Spiel. Sätze brechen einfach ab und werden im Assoziationsfluss neu aufgenommen und abstrahiert: „Rosinensprache“. Interpunktionen folgen ganz eigenen schöpferischen Gesetzen wie beispiels weise hier: „eine Fuszangel = wie angel = Engel = als das Wort welches ich während meines 7-stündigen Schlafes, ausgebrütet hatte“. Das Auflösen syntaktischer Grenzen setzt sich im Überschreiben herkömmlicher Gattungsmerkmale fort: „ich schreibe PROEME, schreibe digital“. Mayröcker wendet sich also einer neuen Form zu, die sich auch in der grafischen Gestaltung der einzelnen, penibel datierten Textparts widerspiegelt. Ganz selbstbewusst taucht in diesem Zusammenhang das Wort „Reformer“ auf.

„Vom Alphabetismus zur Malerei“

Auf die Frage nach dem Inhalt ihrer neuen Publikation gibt sie in ihrem Werk gleich selbst eine Antwort: „verzage nicht! ... es geht um NICHTS und es geht um ALLES; vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich meine Empfindungen im Sinne v. Materie“. Und weiter heißt es: „ach um ein lg. Leben es geht um den Knall den Knall der Verliebtheiten, Vergeblichkeiten, Phantasien, Tagträume“. Alles, was sie umgibt, womit sie sich beschäftigt, rauscht in diese Texte hinein, wird aufgesaugt, literarisiert. Musik, Literatur, punktuell blitzen sogar Splitter aus dem modernen Alltag wie Skypen oder Instagram auf; selbst ein Unwort des Jahres („Vollholler“) wird zitiert. Schon lange begleiten sie die Werke Jacques Derridas, aber auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie etwa Alfred Kolleritsch, Barbara Frischmuth, Marcel Beyer und viele andere werden hier erwähnt.

Einen immer dominanteren Eingang in ihr Alterswerk findet ihre Auseinandersetzung mit der Malerei. Dabei reicht ihr Interesse von Ferdinand Georg Waldmüller über René Magritte und Henri Matisse bis hin zu Arnulf Rainer, Maria Lassnig oder Martha Jungwirth: „vom Alphabetismus zur Malerei / du muszt wissen dasz ich seit langem bestrebt bin ‚Avantgardismus’ mit ‚Klassizismus’ zu verbinden“. An einer Stelle sieht sie ihr Schreiben sogar selbst in der Nähe der Malerei: „ich arbeite ein wenig wie Malerin“, und das geschieht nicht nur technisch, sondern auch semantisch: „Ockerfarbe auf Herz montiert.“ Literarische Montagetechniken, die Integration kleiner Symbole und Zeichnungen oder das Auf- und Abtragen von (Bedeutungs-)Schichten, wenn es um Wortkreationen geht – all das zeigt, dass Mayröcker noch immer und ganz selbstverständlich mit Neuem und Experimentellem aufwarten kann. In der Nachkriegszeit hat man sie gemeinsam mit Ernst Jandl im Umkreis der Wiener Gruppe verortet, deren Mitglied sie jedoch nie gewesen ist. Letztendlich ist sie ihren ganz eigenen Weg gegangen, der sie mit der Zeit zu einer Auflösung der traditionellen Textentwicklung geführt hat: „Die Kunst ist mein alles. Die Worte als Worte ausstellen, ohne ihren Sinn zu entfalten.“

„In meinen Träumen bin ich jung“

Wenn man ihr Werk genau liest, stößt man auf subtil ausgelegte Fährten, die Einblicke in das Zustandekommen ihrer vielschichtigen Assoziations- und Komprimierungsmechanismen bieten: „Vieles kann ich nur schreiben, weil ich mich verlese/ verhöre“. An einer anderen Stelle betont sie: „in meinen Träumen bin ich jung / in meinen Träumen bin ich high“; ein Satz, der leitmotivartig wiederholt wird, wenn die Sprache „baumelt“. Am Morgen nach dem Erwachen notiert sie Bruchstücke und lässt sie intuitiv mit der Realität verschmelzen: „ hocke in meinem Feldbett und skizziere Bouquet v. Sprache nämlich erkannte dasz diese Büsche v. Sprache einen Duft aussandten, ich meine: unter Tränen erfuhr ich dasz dieses ärmellose Glücksgefühl“.

Wie schon so oft findet auch der Tod erneut Erwähnung, ebenso Anspielungen auf einen Krankenhausaufenthalt nach einem Sturz oder häufige Begleitumstände des Alters: Einsamkeit, Hinfälligkeit („Mein Torso (ach) einer Fliege, einsam bin ich mein Kamerad eine alte Hündin, ich Debütantin des Todes“ ; „ach meine Verwahrlosung, schreibe von einst geschriebenen Büchern ab“), Vergessen („Ich schreibe lange Listen von, jenen Wörtern die mir ABHANDEN! kommen und gekommen“) und der Gedanke an einen steinigen „letzten Weg, wohin sind Mutter und Vater und Freund usw.“

Im nächsten Augenblick jedoch nimmt Mayröcker wieder Erinnerungen auf, an ihre Geburt an einem „Nachmittag im Winter ’24“, oder sie lässt pulsierendes Leben durchschimmern, in dem die Natur („weisze Wolkenperücke“, „Paravant Pastellhimmel“) schon seit jeher eine besonders zentrale Rolle spielt. Mayröckers Wissbegierde ist noch lange nicht versiegt und generiert einen immer kühneren Zugang zum Schreiben, dem eine ganz eigene, ja einzigartige Metaphorik entspringt. In der Mayröcker'schen Schreibwelt saust und braust es gehörig – herzhaft verwegen: „Allseits Fäden, v. Malerei, meine Erfahrungen zu erfühlen oder zu hexen ich meine zu be-hexen : ich schmecke diese Erfüllung v. Sprache“

Die Autorin ist Koordinatorin des Forum Sacré Coeur.

da ich morgens Cover - © Suhrkamp
© Suhrkamp
Buch

da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete

Von Friederike Mayröcker
Suhrkamp 2020
201 S., geb., € 24,90

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