Sprachgewissen unserer Kultur

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Zum 75. Geburtstag der Dichterin Friederike Mayröcker.

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Zum 75. Geburtstag der Dichterin Friederike Mayröcker.

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Die meisten dieser Non-stop-Lesungen, die in den achtziger Jahren so recht in Schwung kommen sollten, waren schrecklich, konnte man doch am Ende sich auf keinen Text mehr konzentrieren; eine der längsten aber, die leicht eine der schrecklichsten hätte werden können, wurde für alle Beteiligten zu einem Erlebnis: Es war im Sommer 1985 in Marburg/Lahn. Drei Tage lang lasen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Österreich aus neuen Arbeiten, vor einem Publikum, das nicht, wie üblich, sich allmählich auflöste, sondern wie gebannt durchhielt bis zum Schluß; die österreichische Literatur stand ja damals, namentlich als Sprachgewissen der deutschsprachigen Literatur (wie ein deutscher Diskussionsteilnehmer feststellte), noch hoch im Kurs. Allerdings, es wurde zunehmend unruhiger in den Lese-Sälen, es wurde also für die Lesenden schwieriger und schwieriger.

Als die letzte Lesung angekündigt wurde und schließlich über die Bühne ging, hätte man trotzdem, wäre auch bloß eine einzige zu Boden gefallen, jede Stecknadel gehört. Man hörte keine, man hörte, in einem heillos überfüllten Raum, nur mehr die Stimme von Friederike Mayröcker.

Wann immer, wo immer sie liest: Jedes Publikum, vor dem sie auftritt, findet in ihren Texten Anstiftungen über Anstiftungen, sich fesseln zu lassen - und alle überflüssigen Fesseln zugleich abzustreifen vor diesem Wort-Gestrüpp, das sie zu präsentieren pflegt und das nichts anderes ist als eine höchst kalkulierte fortlaufende, prinzipiell nie abschließbare Transkription von Bewußtseinszuständen und Bewußtseinsentwicklungen, die Friederike Mayröcker vorlegt, eine Riesentranskription, in der Detailgenauigkeit und damit Glaubwürdigkeit über allem stehen: "Denn das Schreiben, geliebter Leser, müssen Sie wissen, setzt das Gemüt mit seinen gemachten Revolutionen, freien Vorstellungen, feurigen Ausdrücken und anderen bunten Verästelungen in Sehnen/Unruh/Glut und Lüsternheit, es nimmt den Kopf ganz als in Arrest", heißt es in der "Lection". Alles, was in dem so arretierten Kopf zusammenkommt, Gelesenes (nebenbei: die schönsten Lektürevorschläge!) wie Gelebtes/Geliebtes, Angst, Wißbegierde, alles was da seinen Platz behauptet, wird aufgeschrieben, in einem Bewußtseinsstrom festgehalten, der kein formales Prokrustesbett kennt. Nur das Kalkül der Autorin sorgt für Organisation: Der Strom soll nämlich nicht die Gefühle überschwemmen oder an vorbestimmtes Land spülen, vielmehr den Leser/die Leserin mitreißen, in eine "strömende Verfassung" bringen und endlich auch dazu, sich selbst auf "Geisteszerreißproben" einzulassen, das Gelesene und das Gelebte nicht mehr feinsäuberlich zu trennen, so wie Friederike Mayröcker Leben und Schreiben nicht mehr zu trennen vermag, nicht mehr trennen will.

Zu ihrem Leben nur einige Stichworte. Geboren in Wien, am 20. Dezember 1924, verbrachte Friederike Mayröcker die Kindheit abwechselnd in ihrer Heimatstadt, wo sie eine private Volksschule besuchte, und im niederösterreichischen Deinzendorf, einem kleinen idyllischen Ort, der gleichwohl zahllose Spuren in ihrem Werk hinterlassen hat. Nach der Schulausbildung ab 1946 erste Veröffentlichungen, gleichzeitig Arbeit als Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen; seit 1954 Freundschaft mit Ernst Jandl; seit 1969 freie Schriftstellerin. Sie lebt nach wie vor in Wien. Mitglied des Österreichischen Kunstsenats, der Akademie der Künste Berlin-W, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Grazer Autorenversammlung. - Die Zahl der Ehrungen und Auszeichnungen und Literaturpreise wird nur noch übertroffen von der Zahl ihrer Buchveröffentlichungen: Sie schreibt Lyrik, Prosa, Hörspiele, Essays, nicht zuletzt Kinderbücher.

"Vielleicht", notiert Friederike Mayröcker im Versuch einer Selbstbeschreibung, "ist Dichten wirklich ein Übermut, wie Goethe zu bedenken gibt. Also ein unausgesetztes Rezipieren, ein unausgesetztes Registrieren der schaubaren, hörbaren Welt." Ein unausgesetztes Beobachten, das mutet sie auch ihren Lesern zu.

Der Prozeß der Weltwahrnehmung, der Prozeß des Schreibens und, wie Friederike Mayröcker bestätigt, auch die ihre "Arbeit begleitenden Theorien und Ansichten befinden sich in einem Zustand permanenter Bewegung, die zwar ihr Tempo ändert, sich aber an keinem Punkt fixieren läßt weil dadurch die Arbeit selbst gestört würde."

Diese Arbeit aber ist eine Arbeit mit Wörtern, mit graphischen, phonetischen, syntaktischen, textgrammatischen, rhetorischen Elementen, mit zunächst fast ausschließlich sprachinternen Gesetzmäßigkeiten und Widersprüchen. Eine Arbeit, die sich gegen jede Eindeutigkeit sperrt und die immer bemüht ist, die wahrgenommene Welt und das wahrnehmende Subjekt zugleich sichtbar zu machen, wobei, das gilt es hier zu unterstreichen, diese Form des Schreibens, auch wenn sie alles in Schwebe zu halten scheint, immer in die ästhetische auch eine soziale Dimension miteinschließt. Eine Dimension, die sich unmißverständlich etwa zeigt in der von Goya (und im übrigen von Beckett, den Friederike Mayröcker immer wieder als Vorbild genannt hat) beeinflussten Identifikation mit dem Vagabundenhaften, mit dem Heruntergekommenen; und nicht zuletzt im "hang zum pedantischen chaos oder zur chaotischen pedanterie".

Das Spiel mit der Sprache ist alles andere als Spielerei, es ist Ausdruck des Bemühens, in der Veränderung der Wörter die Veränderung des Lebens vorwegzunehmen, denn der Stillstand des Lebens wäre der Tod; "ich möchte mich des Todes erwehren", schreibt Friederike Mayröcker, "ich schreibe vielleicht vor allem um mich des Todes zu erwehren, also ich schreibe gegen meinen Tod an." - Das Sprachgewissen der österreichischen Kultur ist in ihrem Werk am besten aufgehoben.

Der Autor ist Professor für Germanistik an der Universität Innsbruck.

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