Friederike Mayröcker malt in ihrem Buch "Und ich schüttelte einen Liebling" Spuren der Erinnerung.
Jedes Buch Friederike Mayröckers, das man in den Händen hält, birgt etwas Besonderes. Das haben ihre Texte bereits über Jahre hinweg bestätigt. Und dennoch staunt man immer wieder neu, welch "Fingerwerk", das sie neuerdings ein figurales nennt, sie aus der Sprache zu schütteln imstande ist.
Mayröckers Schreiben ist gewissermaßen ein Protokoll der eigenen Existenz, weil es ins Leben gewachsen und in ihr Sein ganz integriert ist. Es greift zu kurz, dies mit äußeren sichtbaren Zeichen erklären zu wollen, mit morgendlichen Kugelschreiberspuren am Laken oder "zwitschernden Notizblättern im Schosz" für plötzliche Wortfindungen, Gedanken und "pausenlos Exzerpiertes". Mayröckers Leben, Lesen und Schreiben sind quasi eins. Gelebtes und Wahrgenommenes fließen ineinander, weil sie schreibend und weiterdenkend ihre eigene Realität anzapft, die durch und durch Rohmaterial für ihre Arbeit ist im assoziativen Fortschreiben der Dinge und im Entwickeln einer eigenen "Innensprache". "Ich lasse mich tragen von meiner Sprache als sei ich ausgestattet mit Fittichen."
Neue Bedeutung
Auch wenn ihrem jüngsten Buch Narration attestiert wird, die sich in besonderer Weise in ihr Leben senkt, so ist diese eine assoziative, sich auffädelnd an kleinen und großen Ereignissen des Alltags, an Erinnerungen und vor allem auch an vielfältigsten Lektüreimpulsen. Spracheinflüsterungen schüttelt sie, sodass Wörter und Sätze durcheinander wirbeln, taumeln, zu Boden fallen, um verfremdet neu positioniert zu werden, während die "leibhaftige Sprache" als leuchtende Schrift vor Augen steht. Das vorangestellte Zitat von Peter Weiss unterstreicht ihre Verweigerung des Statischen als Bekenntnis zum vexierbildhaften Ineinanderfließen der Bedeutungen: "alles was gesagt wird wird ständig zurückgenommen, so dasz man immerzu zweifelt was nun wirklich gesagt worden ist, [es] existiert nur im Bereich des Möglichen, aber es könnte ebenso gut anders sein, irgendwie hat es etwas mit einem zu tun ... löst sich auf und nimmt neue Bedeutung an."
Mayröckers neues Buch schwingt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, zwischen Notizen, Alltäglichkeiten, Kaffeehausbesuchen, Spaziergängen und dem Eintauchen in Erinnerungen, vor allem an Ernst Jandl, dem sie sich über Wellen in den Äther verbunden wähnt: "ich warte bei Nacht in den Träumen dasz ej zu mir spricht." Die permanente Präsenz ejs zeigt sich als berührende Fortsetzung des Dialogs mit ihrem langjährigen Gefährten über dessen Tod hinaus, über der sich nicht und nicht schließen wollenden "Wunde", als stille Sehnsucht nach Verbindung: "wie aufregend wäre es, würde ich deine Stimme hören wenn du mir sagst wie es dir geht, was du tust ob du Musik hörst oder durch welche Feuer du hindurchgehst ... und ob du noch an mich denkst". Das artikulierte Unvermögen, was den Umgang mit Menschen betrifft, verfestigt das Bedürfnis zu lesen und zu schreiben. In dieser Abgewandtheit glimmen Entwurzelung und Fremdgewordensein in der Welt. "Alles rätselhaft in seiner Grundierung." Auch das ist eines der zahlreichen Leitmotive, die dieses Buch als dicht aufgeladene semantische Fäden durchziehen.
Mayröckers Erinnerungspuren legen sich auch in frühere Zeiten, als zum Beispiel die alt gewordene Mutter Nähe sucht. Ihr Blick ist heute ein anderer, bestimmt von der "geriatrischen Sicht der Dinge", der selbstkritisch und erstaunlich offen eigene Versäumnisse konstatiert, wie überhaupt Altern und Verlust ein wichtiges Thema, Konnotate der Seele sind. Und immer wieder geht es um das fast manische Lesen, z.B. in Büchern Gertrude Steins und Jacques Derridas oder um Musik mit der Wahnsinnsarie der Callas. Ebenso navigiert sie uns durch Briefe und Telefonate und durch Begegnungen mit Freunden, wie mit Bodo Hell.
Bunt hinein mischen sich Reflexionen über Kunst und die Konfrontation mit den ungelösten "Grundfragen des Lebens", während das "Alltagsgefüge" alles ins Rütteln bringt.
Poetisches Herzklopfen
Und so scheinbar selbstverständliche ungewöhnliche Wortverschweißungen sind es, die die Früchte dieser Textschüttelungen so reizvoll machen: Als kollere die Sprache herum im "Augentaumel" und "Denkfieber", weil das "poetische Herzklopfen" sie hineinfallen lässt in sprachliche "Materialität ... welche Elektrisierung erzeugt".
Mayröckers wunderbare Poesie ("und es florte um mich herum und ich schüttelte einen Liebling") steckt in den einfachsten Worten, die neu zusammengeführt in anderem Kleide auferstehen wie "das wuchernde Sternenlicht": "Ich dachte an die Wanderungen ... während fuchsienrot die Jahreszeiten, da riecht es nach Wald und Waldtieren, sage ich zu ej, und der blutende Blumenstock, der blutende Eszzimmerboden, und da rieselt der Wald und einen Zipfel herausziehen ganz fremd, herausziehen und mein Eigenes daraus machen, ... ach ich habe derart mein Leben mit Schreiben verloren, aber andererseits war es vielleicht das beste was ich hatte tun können".
Und ich schüttelte einen Liebling
Von Friederike Mayröcker
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2005
237 Seiten, geb. e 20,40