Radio - © Foto: iStock/mgkaya

Ö1: Wie kostbar

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Ein anachronistisches Lob des Radiohörens von einem Hörfunkpionier, der in den 1960er Jahren Österreich Eins und – das damalige Jugendkulturradio! – Ö3 miterfunden hat.

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Ein anachronistisches Lob des Radiohörens von einem Hörfunkpionier, der in den 1960er Jahren Österreich Eins und – das damalige Jugendkulturradio! – Ö3 miterfunden hat.

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Eines Tages wollte ich einen Brief an die Stimme einer mir unbekannten Frau schreiben – und der sollte dann ungefähr so lauten:

„Ob du weißt, wie kostbar das Wunder des Worts in der Nacht ist? Denn manchmal lässt die Musik nur die Zeit vergehen, bis ich den Atem wieder verspüre, deinen lebendigen Atem, der sagt: Ich bin da – und du hörst mich. Ich stelle mir vor, wie du aussiehst, wir sind uns ja fremd und doch so vertraut, wenn du sagst: „Ein Blick auf die Uhr – es ist jetzt vier Uhr fünfunddreißig, und die Sonne wird bald aufgehen, und wir hören jetzt den zweiten Satz aus dem Klarinettenkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, Köchel 622.“ Wir hören Mozart. Wir. Du im Studio, wahrscheinlich mit Kopfhörern und mit einem Blick auf das Mikrofon, als wäre es ein leibliches Gegenüber.

So oder so ähnlich romantisch steht es in dem Brief, den ich in meiner Phantasie – irgendwann einmal – schreiben wollte.

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Menschenstimmen im Radio können Lichter anzünden, nicht nur in der Nacht, in den Dunkelheiten, außen wie innen – sie können Morgenlicht bringen, Aufhellung, Aufklärung, enlightenment! Hören, auf dass wir Sehende werden, die unterscheiden können die Gestalt des Menschen von der des Unmenschen im Zwielicht der Welt! „Stecke deine Augen in die Ohren“, soll Luther gesagt haben.

Ein Lob auf die Sprache

Ein Lob des Radiohörens muss ein Lob auf die Sprache sein. Denn Radio lebt von dem lebendig gesprochenen Wort. Einst war Radio – wenn auch mitunter steif und formelhaft – Sprach- und Sprechschule des Volkes. Doch Sprache ist wehrlos, den achtlosen Angriffen ausgesetzt. Radio ist ein Messgerät, an dem ab-hörbar ist, wie viele schädliche Schmutzpartikel an Oberflächlichkeit, an Achtlosigkeit und Inhumanität in der Luft sind. Wer Radio hört, kann prüfen, wie es der Sprache geht – und was an dem Wort Johann Gottfried Herders dran ist, wenn er der Sprache zuschreibt, dass sie, die Sprache, abbilde, wie es um die Kultur der Lebensart einer Gesellschaft bestellt sei.

Einst, vor sechzig, siebzig Jahren, wurde in unserem Land mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erstmals ein freies Radio geschaffen. Damals, als sich noch nicht die Fangarme kommerzieller Interessen des Mediums Rundfunk bemächtigt und dann bedient hatten. Öffentlich-rechtliches Radio wurde alsbald als Staatsrundfunk denunziert, und seine Verantwortlichen, die noch immer von einem Bildungsauftrag predigten, wurden milde belächelt. Rundum wuchsen bald nicht mehr unterscheidbare Formatradios mit lähmend ähnlichen Strickmustern. Tapetenradios. Und der Österreichische Rundfunk, Sektion Radio, setzt inzwischen auf eine Flottenstrategie seiner Programme.

Doch ein Zweig des Baumes der Radiovision der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist noch grün: das Programm Österreich Eins.

Österreich Eins ist Radiokultur. Und seine Radiokultur ist der Exorzismus der Flüchtigkeit, denn die gute Sprache und ihre Zuhörer brauchen Zeit und die Zeit braucht eine gute Sprache und gute Zuhörer, denn nur Menschen, die zuhören können, haben einen kritischen Kopf und ein warmes, lebendiges Herz. „Sie müssen nicht denken, bevor Sie sprechen“, sagte Elfriede Jelinek einst in der Dankesrede für einen großen Radiopreis, „aber Sie müssen denken, wenn Sie zuhören“. Und daran ändert auch der Zeitgeist nichts.

Radiokultur ist eine Kultur des Erinnerns, des Erzählens, des Erwartens, und, ja, auch des Erschütterns.

Warum nur weckt das Radio in uns Alten so sehr das Heimweh nach Kindheit? Im Jänner jenes Jahres, in dem Mozarts zweihundertster Geburtstag gefeiert wurde, schenkte mir mein Bruder zu meinem Geburtstag einen kleinen selbstgebastelten Wellenempfänger, mit dem ich mittels eines einzelnen alten Kopfhörers Radio hören konnte. Des Nachts unter der Steppdecke. Dieser seltsame Umstand verschaffte mir den Genuss, mich vom profanum vulgus, dem gewöhnlichen Volk der schlager- und fußballorientierten Mitzöglinge im Internat, abzusetzen und gleichzeitig mit hohem Anspruch gegen die Obrigkeit zu handeln.

Ich war ja Schwarzhörer. Die Dunkelheit war Voraussetzung für ein sinnliches Hörabenteuer und für einen sehr glücklichen Zustand im Kopf. So kam es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben eine ganze Oper hörte. „Così fan tutte“, unter dem Schutz der Steppdecke. Ich hörte hingegeben und reglos, denn hätte ich mich bewegt, wäre die schwierige Einstellung der mühsam gefundenen Wellenlänge gestört und die bittere Süße der Musik durch ein hässliches Rauschen unterbrochen gewesen.

Von der zärtlich-bitteren Ironie des unendlichen Wohlklangs der Duette und Quartette ist mir in der Seele eine Wunde geblieben, die immer wieder aufbrennt vor Heimweh nach allen Himmeln der Liebe, wenn ich Mozarts Musik höre. Geliebtes Radio, warum nur weckst du so sehr in uns Alten das Heimweh nach Kindheit?

In ein Chamäleon verwandelt

Radio hat sich inzwischen in ein Chamäleon verwandelt. Es kann alle Farben spielen, die rosaroten und die knallgelben am liebsten. Man spricht ja – in den Fachkreisen – so treffend von einer Programm- oder einer Musikfarbe. Manche behaupten ja, die schönste Eigenschaft des Radios wäre die eines Begleitmediums, einer Escortdame, die gefällig und unauffällig ist, nirgendwo stört, brav im Hintergrund bleibt und kundenfreundlich Werbebotschaften und Wetterbericht verkauft.

An der Hälfte meines beruflichen Radiolebens, am Beginn seines Herbstes, wurde ich einmal befragt, was mich denn an diesem Medium so sehr fessle, wo doch die große Zeit des Radiohörens längst vorüber wäre. Ich bestritt dies heftig und die Befragung fand kein glückliches Ende. Weh mir, dachte ich, wo nehm ich jetzt noch ein überzeugendes Wort her! Ich war – und bin es noch immer – ein entflammter Streiter für die Erfindung des Bildungsprogramms Österreich Eins. Also schickte ich dem Gespräch noch einen kühnen Satz hinterher: Ich halte Radio für eine moralische Anstalt, wie Schiller das Theater, die Schaubühne.

Einen, der diese Zumutung mit mir teilte, habe ich erst viel später entdeckt. In seiner Dankesrede für den Hörspielpreis der Kriegsblinden 2003 – den begehrtesten Radiopreis überhaupt – bekannte nämlich der begnadete Provokateur Christoph Schlingensief: „In den tiefsten Tiefen meiner Seele bin ich Moralist, sehr bürgerlich. Umso mehr wundere ich mich immer wieder darüber, wie sehr manche Menschen diesen Ansatz streitig machen wollen, um daraus ihr eigenes Kapital zu schlagen oder um von ihren eigenen Sauereien abzulenken.“

Jetzt noch einmal nachlesen, was Schiller mit moralischer Anstalt gemeint hat. Und ich komme auf eine kräftige Litanei, die ich dem Radio, und damit meine ich nur Österreich Eins, auf den Kopf zusage: Es befreit von Dummheit und hilft zur Selbsterkenntnis, es macht mit dem Bösen und den Widrigkeiten des Lebens bekannt, es schafft ein Verhältnis zur Geschichte, es weckt Mitgefühl mit der geschundenen Kreatur, es ist der gemeinschaftliche Kanal der Aufklärung, es ist eine Schule der Toleranz und vereint Menschen in dem edlen Gefühl, ein Mensch zu sein. Der Lyriker Reiner Kunze meinte einmal, man müsste für das Radioprogramm Österreich Eins einen Sender im Weltall errichten.

Die Fährleute von Österreich Eins

Fährleute sind sie, die Radio­leute von Österreich Eins, und Flößer auf dem Strom der Geschichte und der Geschichten. Noch immer laden diese Unbeirrten mit ihrem Radio ein: zum Anlegen an den Landzungen der Dauer, den Ufern des Verweilens, des Aushaltens. Radiohören ist die Kunst der Beharrlichkeit.

Wer gleich nach den ersten zwei Minuten einer Sendung mit Neuer Musik abdreht, nur weil das Ohr nicht gleich gehorsamst entzückt war, versäumt oft das Wertvollste: eine Entdeckung.

Und nicht zuletzt: Radiokultur ist eine Kultur des Erinnerns, des Erzählens, des Erwartens, und, ja, auch des Erschütterns. Radio, das ich meine, also Österreich Eins, geht auch mit dem Leid der Menschen in dem stillen Wissen um, dass es sich dabei um eine Kostbarkeit handelt.

Der Autor leitete bis 1989 die Abt. Gesellschaft-Jugend-Familie, dann bis 1999 Religion beim ORF-Radio.

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