Unruhige Wanderungen durch die Welt

Werbung
Werbung
Werbung

Spams in der Mailbox haben normalerweise keine Chance. Sarah Martingal versucht es trotzdem, weil sie finanzielle Unterstützung braucht. Eine durch "Translate. Template Sprachen reisende E-Mail-Nachricht" rauscht durch den Äther und soll den unbekannten Vater des Jus-Studenten Daniel finden, den Martingal einst in der "rush hour des Kosmos" kennen und lieben gelernt hat. Noch bleibt ihrem Sohn nur der Traum "von Zukunft und Wohlstand".

So lässt sich der Plot einer der 20 Erzählungen umreißen, die der Grazer Autor Clemens J. Setz in seinem jüngsten Erzählband "Der Trost runder Dinge" versammelt hat. Den Spam-Text dominieren wilde sprachliche Macken mit durchaus originellen poetischen Blüten, weil er der Google-Translate-Sprache nachempfunden ist. Was das Experiment anbelangt, ist Setz tatsächlich gnadenlos. Das zeigt nicht zuletzt seine Publikation "Bot", die ursprünglich "eine Art Gesprächsband" hätte werden sollen. Doch statt des Autors wird hier eine Word-Datei als "ausgelagerte Seele" zu Rate gezogen. Den Fragen der Lektorin Angelika Klammer folgen robotermäßig generierte Antworten aus diversen Reisenotizen oder tagebuchartigen Journaleinträgen. Im Gegensatz zu diesem tatsächlich eigenwilligen "Gespräch ohne Autor" beschreitet Setz in seiner neuen Prosa formal gesehen wieder einen geradezu konventionellen literarischen Weg.

Diese Erzählungen eint, wie Setz in einem Gespräch unterstreicht, nicht das Thema, sondern der "Grad des Extremen". Viele Texte enthalten surreale Elemente, die als schwebende Ebene in der Handlung vibrieren. Merkwürdige Wahrnehmungen und Aktionen oder ein plötzlicher Einschnitt lassen den Alltag der Protagonisten aus dem Ruder laufen und führen zu empfindlichen Irritationen ihres Lebens. Im Extremen bündelt sich Bizarres, so einiges gerät aus der Norm, das seltsame Nachbilder in den Parallelwelten der Protagonisten schafft.

Von seelischen Kenterneigungen

Setz integriert das Verstörende, selbst den Wahnsinn in das Leben der Figuren und erprobt damit das Überschreiten herkömmlicher sozialer Grenzen. Das Befremdende verrückt den Blickwinkel, das unmittelbare Hier und Jetzt, sogar die Welt, wenn man die Perspektive wechselt und das Geschehen aus der Sicht der Figuren betrachtet. Der Perspektivwechsel wird auch zum literarischen Kunstgriff wie beispielsweise im parabelartigen Text "Die zwei Tode", in dem ein Salamander "auf einem weißen Grenzstein in der Sonne" plötzlich einen Wanderer mit Strohhut wahrnimmt, der das regungslose kleine Tier für tot hält: "Er wandert unruhig durch die Welt und hüllt seinen Kopf in Schatten", dachte der Salamander, "ich frage mich, ob er vielleicht tot ist ..." Der Sichtwechsel kann aber sogar innerhalb des Gedankenraums ein und derselben Figur erfolgen. Einer, der ständig unter Verfolgungswahn leidet, schwingt sich kraft seiner Vorstellungswelt physisch in die Jugend zurück - parallel zum "permanenten Farbwechsel" auf der Erde, den Explosionswolken infolge eines Kometeneinschlags auf dem Jupiter ausgelöst haben: "Alle Zellen in seinem Körper, erklärte er, seien verjüngt worden ... Ja, sein ganzer Körper sei wie eine Uhr einfach, bumm, zurückgestellt worden." Die Rückkehr ins reale biologische Alter erfolgt -dargestellt in einer witzigen Replik seiner Ehefrau - plötzlich mit der lapidaren Erkenntnis, "dass er mit zweiundzwanzig ja noch gar keine Kinder gehabt habe. Daher sei alles plötzlich schief gewesen, unerträglich."

Dass es durchaus eine Herausforderung sein kann, sich auf die Gedankenwelten des Figurenrepertoires einzulassen, zeigt auch die Erzählung "Geteiltes Leid", in der Setz in der Auseinandersetzung mit dem Thema Angststörung beeindruckt. Ein alleinerziehender Vater zweier noch junger Söhne leidet unter massiven Panikattacken. Zwischen Wahnvorstellungen, Selbstmordgedanken und schrecklicher Angst setzt er gezielte Handlungen, um sich psychische Erleichterung zu verschaffen. Er verbrennt einen Geldschein oder streut Erde auf den Teppich, den er später wieder mühselig reinigen muss. Seine Zukunft sieht er nur, wenn er bei seinen Kindern ähnliche Ängste zu entdecken glaubt. Dann kann er "die richtigen Sätze" sagen. Diese Art von Solidarität ist für ihn Labsal: "Endlich fühlte jemand so wie er. Es war schrecklich, so zu denken, jaja, aber auch angenehm. Er hatte ein Recht auf diesen Gedanken, er gab ihm Geborgenheit." Nur in guten Momenten kann er sich damit anfreunden, die "elementare Kenterneigung seiner Seele" nicht an seine Buben vererbt zu haben. Ob sie ihm die Angst mit gleichzeitiger Lösungsvariante nur vorspielen, um ihm zu helfen, bleibt ungewiss. Schließlich muss er wütend einsehen, dass ihm niemand in seine emotionale schaurige Welt folgen und damit auch nicht das nötige Verständnis schenken kann.

Einsamkeit, Abgründe und Sehnsüchte

Dann ist da ein Autor, der nach Kanada zu einem Literaturfestival reisen soll. Die Trennung vom trauten Heim mit Frau und biederem Wetterhäuschen fällt ihm schwer. Am Flughafen stellen sich nach langer, ermüdender Wartezeit Pannen ein, der Ich-Erzähler storniert schließlich erleichtert den für diesen Tag abgesagten Flug -mit einer Anspielung auf Günter Eichs Gedicht "Inventur":"Hier mein Ticket. / Hier mein Pass. / Und dies ist mein Zwirn." Die tragische existenzielle Grunderfahrung dieses lyrischen Nachkriegstextes wird hier, ohne zu zaudern, auf die Situation eines Passagiers in der Komfortzone transferiert. Als er zu Hause ankommt und sich bereits das "wohlige Gefühl von Vollständigkeit" einstellt, weil rund um ihn herum schon Abendruhe und das Knistern der Kamine in der Gasse erahnt werden können, bemerkt er, dass seine Frau aus der Wohnung ein Lazarett gemacht hat. Überall lagern Fremde, Geflüchtete und Kranke. "Für alles außerhalb dieser Welt hatte es bei Marianne Verstellung gebraucht, Selbstbeherrschung und Geduld. Es war nicht ihr Leben gewesen." Das Unerwartete, das als große Irritation jäh in den Alltag der Figuren hereinbricht, ist hier als markante Motivreihe zu finden. Auffallend ist auch, dass Setz mit der fiktionalisierten Identität des Autors spielt.

Viele Protagonisten leiden unter Beschädigungen und dunkler Einsamkeit, sehnen sich nach Zuwendung und Beachtung, die sie sich auf unterschiedliche Weise holen. Ob es nun um eine Schulkrankenschwester geht, die nach der Kündigung ihrer Stelle ein Kind in ihr Auto lockt und einige Tage bei ihr zu Hause festhält, oder um einen Burschen, der in der Wohnung einer blinden Frau, zu der er sich hingezogen fühlt, Obszönitäten an den Wänden entdeckt und nicht mit ihr darüber zu reden wagt - Setz wählt vielschichtige thematische Zugänge. Meist geben dabei groteske oder irrationale Linien den Ton an. Setz gelingt es glänzend, menschliche Abgründe minutiös auszuloten und dabei die bitteren Sehnsüchte seiner Figuren zu entblößen.

Indem er der Bewusstseinswelt seiner Protagonisten dissonante Verfremdungen einschreibt, legt er kuriose Spielarten des Bodenlosen frei. Manche Erzählungen aber, etwa "Das Christkind" oder "Die Gesichter in den Liftspiegeln der Hochhäuser", lassen einen dennoch fast ein wenig ratlos zurück, weil die Handlung hier offenbar ins Leere geht oder Setz den Bogen des Absurden beinahe überspannt. Was bleibt? "Jeder nimmt eigene Bilder in die Zukunft mit ... Gehen wir also weiter."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung