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Die Katastrophe geschieht lautlos

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VERSTÖRUNG. Von Thomas Bernhard. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1967. 35 Seiten, Leinen. DM 18.-.

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VERSTÖRUNG. Von Thomas Bernhard. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1967. 35 Seiten, Leinen. DM 18.-.

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„Unüberwindlichen Schwierigkeiten in allen Fällen“ begegnet der Sohn eines steirischen Landarztes, als er einen Vater einen Tag lang auf den Krankenbesuchen über Land begleitet. Alle Krankheitsfälle, die der Leser mit den Augen des Sohns und kommentiert vom Vater erlebt, liegen jedoch jenseits der Grenzen medizinischer Zuständigkeit, sie reichen in ihren Wurzeln und Auswirkungen in die Tiefe existentiellen Krankseins und Leidens schlechthin. Menschen, die sich in einer „Geometrie der Zerwürfnisse, Zweifel, Leiden, schließlich der Qual“ gefangen wissen, an deren Leben sich, je einzeln, einsam und unausweichlich die Weltkatastrophe ereignet, präsentiert Thomas Bernhard den Lesern seines neuen Romans „Verstörung“ und wist damit dieses Thema, aus dem schon seine früheren Romane „Frost“ (1963) und „Amras“ (1964) entstanden, immer deutlicher als sein Grundanliegen aus.

Von der äußeren Zerstörung zur inneren Verstörung, vom Mord an der Gastwirtsfrau bis zum Wahnsinn des letzten Patienten, des Fürsten Saurau, der als „überlebensgroßes Klischee einer menschlichen Urtra-gödie“ zwei Drittel des Buches füllt, treibt Bernhard die Darstellung der Katastrophe, „die lautlos geschieht“: Die eigentliche Katastrophe, in der sich die Welt vernichtet, ist nicht der Atomkrieg, sondern die Einsamkeit, die Isolation, die Kontaktlosigkeit, die den Menschen in Verzweiflung und Vernichtung führt. „Aber es versteht dich doch niemand“ ist eine Wendung, die in unzähligen Variationen wiederkehrt: „Zu Eis erstarrte Figuren“, die „nur noch Berufsverkehr unterhalten“, freiwillige und erzwungene Einsamkeit, Abgeschiedenheit, die schwerste Schädigung bewirkt oder einen ungeheuren Kosmos von Ideen beschwört. Warum ist der Mensch einsam? Gibt es einen Ausweg? Die tragfähigste Lösung scheint vom Arztsohn selbst angeboten, der die Einsamkeit, der kein Mensch entrinnen kann, durch die Flucht nach vorn in die selbstgewählte, bewußte Isolation zu bannen versucht, der die Verzweiflung der Einsamen durch intensivste Verstandesanstrengung verdrängen will. Aber der Mensch, der sich — wie der Arztsohn — „von seinem Gehirn aus zu einem Mechanismus macht“, dem man befehlen kann und der gehorcht, der aber bei der geringsten Abweichung von „seinem Stundenplan“, bei der geringsten Erschütterung seines Prinzipiengebäudes „das Gleichgewicht verliert“ — dieser Mensch ist keine akzeptable Lösung! —, „hundertmal multipliziert und dividiert“ wird dieses Thema, es werden Lösungen angeboten und wieder verworfen, Antworten angedeutet und wieder zurückgenommen — eine Bewegung ins Grenzenlose.

Diese bohrende Denkbewegung, in der sich immer neue Einwände „zu Gedanken zusammenrotten“, findet faszinierende Gestaltung in Sätzen, die — immer neue Assoziationen aufgreifend, sich verneinend und wieder bejahend — wie in einer Spiralbewegung ins Unendliche weitergeführt werden könnten und dann sehr oft in drei Punkten und einem „usf“ ins Leere auslaufen. Bernhards Sätze werden dadurch lang, unüberschaubar, kompliziert verschachtelt in direkter und indirekter Rede. Und dennoch muß man überraschenderweise diese Sprache ebenso diszipliniert wie kompliziert nennen: Die Sätze halten jeder syntaktischen Analyse stand, seine Sprache wirkt kühl, distanziert, mathematisch, sie zeichnet die „Geometrie der Zweifel“ nach. Das ist zeitgemäßer genuiner Ausdruck eines Denkens, das sich als „Geschwindigkeit, die ich nicht sehen kann“, definiert; diese Sprache sagt selbst: Das Paradoxe ist gewiß, das Unsinnige ist unendlich.

Wenn Bernhard manchmal die Grenzen des Denkens, des Vorstellbaren und Zumutbaren überschreitet, inhaltlich und formal, kommt einem das Wort Pascals in den Sinn, das als Leitmotiv der „Verstörung“ vorangestellt ist: „Das Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“ — und man möchte tatsächlich die Lektüre abbrechen und das Buch mit Schaudern weglegen. Und man täte es vielleicht auch (mit dem schlechten Gewissen des Deserteurs zwar), wenn wir nicht selbst die Verzweiflung der Einsamkeit kennten, von der Gültigkeit mancher Aussage betroffen und gebannt wären, und wenn wir die Frage nach dem Warum und den Ruf nach dem Du und einer heilen Welt nicht doch immer wieder leise zu hören glaubten.

Denn jenseits der Schluchten, in denen man erstickt, und der Wälder in denen alles Wild erschossen und alle Vögel ermordet wurden, gibt es den blühenden Kastanienbaum, den Vater und Sohn zum Ziel ihres Spaziergangs gewählt haben, auch wenn sie den Spaziergang nicht machen und den Baum nicht erreichen; es gibt den verzweifelten Wunsch „wenigstens mißverstanden zu werden“, wenn Verständigung unmöglich ist; es wird die Frage gestellt, ob man nicht in einem Gehirn ein Stück gemeinsam gehen könne, auch wenn die Antwort „Nein“ ist; es bleibt die Sehnsucht „Post! Post! Post! Eines Tages muß eine Post kommen, die dich nicht enttäuscht. Von wem?“ — Eine Hoffnung wider alle Hoffnung und eine Frage, die in der Luft hängen bleibt.

Die „Verstörung“ von Thomas Bernhard ist keine manirierte Wortoder Gedankenspielerei über die heute vielzitierte „einsame Masse“, sondern eine todernste Konfrontation mit einem Grundphänomen der menschlichen Existenz, das in unserer Zeit und in der Literatur unserer Zeit besonders schmerzlich offenbar und bewußt wird, so daß Walter Jens die „Repräsentanz der Isolation“ und die „Einsamkeit als Solidaritätsproblem“ als Kennzeichen der deutschen Literatur der Gegenwart hervorhebt. Dieses Buch, das keine Lösungen feilbietet, wohl aber das Problem unserer Zeit in seiner ganzen Schärfe und die katastrophalen Folgen der Isolation aufreißt, verdient nicht nur in Deutschland, sondern auch im Heimatland des Autors, in Österreich, volle Aufmerksamkeit. Rita Berger

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