Raus aus dem Schattendasein

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Das aktuelle "Jahrbuch der Lyrik" besticht durch eine bunte thematische Vielfalt.

Das Jahrbuch der Lyrik hat Tradition. Initiativen dieser Art sind erfreulich, wenn man bedenkt, dass Lyrik im Verlagsgeschäft ohnedies ein Schattendasein fristet und größerer Aufmerksamkeit bedarf. Diese Jahrbücher ermöglichen einen raschen Blick auf die thematische Architektur der aktuellen Lyrikproduktion, die einem ständigen Wandel unterworfen ist und ein sehr unterschiedliches Gesicht zeigt.

Herausgeber Christoph Buchwald sichtet in seiner Nachbemerkung bereits auffällige Tendenzen und Bruchlinien des jüngsten Jahrgangs: Interessant ist, dass die Replik auf politische und historische Ereignisse in der aktuellen Lyrik zu fehlen scheint. Neben dem Thema Liebe dominiert die Sprachreflexion, die Auseinandersetzung mit "Poetologie" und "Ästhetik". An diese Feststellung knüpft sich eine bemerkenswerte Frage: "Braucht es also den größeren zeitlichen Abstand, um unideologisch und ästhetisch angemessen auf Zeit und Epoche zu reagieren? Waren die Erschütterungen und gesellschaftlichen Erdbeben der Siebziger notwendigerweise erst in den Achtzigern konkret und überzeugend im Gedicht zu fassen? Braucht die Lyrik - wie der Roman, wie alle Kunst - die zeitliche, die historische Distanz, um statt der Oberfläche den Kern der Dekade zu fassen? Und wenn Literatur, wenn die Lyrik immer auch ein Echo der Zeit ist, in welchen Zeiten leben wir dann jetzt?"

Bunte Mischung

Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten, zumal eine vollständige Abstinenz gesellschaftspolitischer Phänomene in der Lyrik der letzten Jahre - auch wenn sie für dieses Jahrbuch zum Großteil stimmen mag - nicht wirklich zutrifft. Gerade der im letzten Jahr verstorbene Autor Thomas Kling, Brigitte Oleschinski oder Marcel Beyer beweisen eigentlich das Gegenteil.

In diesem Band sind wieder jede Menge neue Namen vertreten, aber - wie es die Tradition laut Herausgeberin Silke Scheuermann will - auch viele bereits etablierte Lyriker und Lyrikerinnen, die hier die Möglichkeit ergreifen, auf sich aufmerksam zu machen. Naturgemäß gibt es eine bunte thematische Vielfalt, die die beiden Herausgeber in acht Kapiteln bündeln und einer ersten Ordnung unterwerfen. Vertreten sind zum Beispiel die Urthemen Liebe und Tod, daneben Natur und Jahreszeiten (der Frühling wird sogar zweimal mit Mörike zitiert, während Christoph Wenzel zeigt, dass dieser Jahreszeit fast immer eine Spur Vorwurf innewohnt), weiters geht es um Fußball (Ludwig Harig schreibt alles über die mächtige Domäne und weiß: "wenn der Pfiff ertönt, dann scheiden sich die Geister") und Orte (Sabine Gruber etwa poetisiert Venedig "inwendig" und "auswendig").

Originelle Ansätze

Häufig beschäftigt man sich mit Sprache oder mit ganz Alltäglichem. Eine Affinität zu Detail und zu Originellem sind ebenso festzustellen, wie das Eröffnungsgedicht "The Walking Tree" von Christine Thiemt zeigt: "Das ist der Baum, vor dem uns unsere Mütter / Immer gewarnt haben. Der uns abends nachsteigt, / Mit grünen Lidern winkt und über Zäune klettert. In seinen Mußestunden hört er Mozart ..."

Aus Robert Gernhardts Text "Geh aus mein Herz", das Lektüreerfahrungen und Gedanken während seiner Chemotherapie schildert, schimmert Berührendes, und Existentielles ist bei Johannes Kühn zu finden, wenn die Rede auf den Seufzer kommt, den das lyrische Ich nicht nur im Alter, sondern in jeder Tonart beherrscht. Zu erwähnen sind schließlich auch die Beiträge von Elisabeth Borchers, Oswald Egger, Franzobel, Friederike Mayröcker oder Oskar Pastior. Dieser Band präsentiert sich als interessanter vielstimmiger Reigen mit innovativen lyrischen Rauchzeichen, denen man dieses Forum weiterhin wünscht!

Jahrbuch der Lyrik0

Hg. von Christoph Buchwald und Silke Scheuermann. S. Fischer Verlag, 2007 202 Seiten, geb., Euro 18,50

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