Mit dem ersten literarischen Werk wagen die Autoren den Sprung ins kalte Wasser. Die heimische Literatur hat im Jahr 2008 eine überraschend große Zahl an Debüts von beachtlicher Qualität aufzuweisen.
Es war 1999, als ein deutscher Kritiker das "Fräuleinwunder" erfand und das Magazin einer kurz darauf untergegangenen heimischen Buchhandelskette den "Klub der jungen Dichter: jung + schön = Bestseller" ausrief. "Deutschlands jüngster Autor der Verlagsgeschichte" - so kündigte Kiepenheuer & Witsch den damals 17-jährigen Benjamin Lebert an und konnte darauf zählen, dass die Lesungen zum Show-Event avancierten und der Autor zum Popstar.
Jene Teile des Literaturbetriebs, die sich als Sparte der Lifestyle-Industrie positionieren, können junge Autoren gut gebrauchen, die sich offensiv zum schönen Schein der Marktwirtschaft bekennen. Zudem kam es dem immer rascheren Umschlagstempo des Buchgeschäfts entgegen, im Jahresrhythmus ein junges Genie zu lancieren, das einmütig hochgejubelt und im Folgejahr oft ebenso einmütig vergessen wurde. Einigen freilich ist in dieser Zeit der offenen Fenster für junge Talente der rasche Durchbruch gelungen.
Beachtliche Qualität
Aktuell scheint es um diesen Hype ein wenig stiller geworden zu sein. Doch die heimische Literatur hat gerade im ablaufenden Jahr 2008 eine überraschend große Zahl an Debüts von beachtlicher Qualität aufzuweisen. Am meisten Beachtung fand der im Hoffmann und Campe Verlag erschienene schmale Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker, "Der lange Gang über die Stationen" (FURCHE Nr. 7/2008); ein Teil der Kritiker lobte die "präzise, unerhört dichte Prosa" (Falter) und die "ungewöhnlich dichte und reife Sprache" (Wiener Zeitung), während andere das Buch als "nur halb geglückte Talentprobe" (Neue Zürcher Zeitung) sahen, die einen "künstlich verquasten Stil pflegt, den hölzern zu nennen höflich wäre" (Die Presse).
Eher einhellige Begeisterung erregte Angelika Rainer, geboren 1971 in Osttirol und Harfinistin bei der Musicbanda Franui, mit ihrer lyrischen Erzählung "Luciferin" (FURCHE Nr. 16/2008). Dieser anspielungsreich komponierten Existenzanalyse einer Außenseiterin mit Allüren, Kanten und Leidenschaften ist das Schillernde schon im Titel eingeschrieben. Der Boden wankt mit dem Blick bzw. der Aussprache: Aus der Teufelin wird mit Betonung auf der letzten Silbe Luciferin, der Leuchtstoff der Glühwürmchen.
Vielleicht noch zu wenig beachtet blieb bislang der bei Deuticke erschienene Romanerstling "Lebenslänglich" von Britta Mühlbauer (BOOKLET November 2008), eine flotte und intelligente Satire auf Fitnesskult, Jugendlichkeitswahn und andere Auswüchse des Zeitgeistes.
Zwei junge Autorinnen starteten 2008 gleich mit zwei Publikationen in verschiedenen Verlagen und umgingen damit den Druck, der nach einem erfolgreichen Debüt auf dem zweiten Buch lastet. Die beiden Romane der 1984 geborenen Sophie Reyer, "Vertrocknete Vögel" (Leykam) und "baby blue eyes" (Ritter), sind inhaltlich, sprachlich und auch von der Konzeption her eng verwandt.
Beide Mal geht es um Pubertätsgeschichten. Das altersbedingte Lebensunglück, verstärkt durch angedeuteten sexuellen Missbrauch, mündet in massiven Depressionen mit Folgesymptomen wie Magersucht, Cutting und einer sprachlich besonders offensiv ausgebreiteten chronischen Verstopfung. Beide Romane haben etwas erfrischend Ungestümes, vielleicht hätte eine Überarbeitung und Zusammenführung kompositorisch und sprachlich ein größeres Ganzes ergeben.
Etwas unfertig
Etwas unfertig wirken auch zwei andere Debüts des Jahres 2008: "[Ich bin]" heißt der bei Residenz erschienene Prosaband der 1980 in St. Pölten geborenen Milena Michiko Flasar. So überakzentuiert, wie die eckigen Klammern des Titels die schwierigen Selbstfindungsprozesse der Pubertät anzeigen, gerät mitunter auch die Sprache.
Die ersten beiden Abschnitte - erste Liebe, Suche nach der Kindheit - wirken wie bearbeitete Tagebuchauszüge, und man sucht hinter den fortwährenden Überlegungen, was und wie denn eigentlich zu schreiben sei, ein wenig verloren nach dem eigentlichen Anliegen der Autorin. Gelungener ist der dritte Abschnitt, der mit einer Geschichte über den Clash der Kulturen auf Amourenebene eine Art Klammer findet.
Aus anderen Gründen drohen im Erzählband des 1971 in Leoben geborenen Roland Steiner "Unter Haltungen - Stehend" (Arovell) die Geschichten mitunter zu entgleiten. Er arbeitet mit einer überbordenden Fantasie, großem sprachlichen Furor und brachialen Körperbildern, denen mitunter die Erdung abhandenkommt.
Trotzdem hört man hier einen ganz eigenen Ton und man ahnt die Kraft, mit der sich dieser Autor an die Arbeit mit und an der Sprache macht. Auf sein nächstes Buch darf man jedenfalls gespannt sein.
Homogene Qualität
Die zweite Autorin aber, die 2008 gleich mit zwei Büchern die literarische Szene betrat, ist die 1987 in St. Pölten geborene Cornelia Travnicek, und es ist ein überzeugendes Doppeldebüt. "Aurora Borealis" (Bibliothek der Provinz ) sammelt neun Erzählungen von überraschender Bandbreite und homogener Qualität, und im Roman "Die Asche meiner Schwester" (Literaturedition Niederösterreich) entwirft Travnicek mit leichter Hand ein unkonventionelles Roadmovie; gleichsam über Nacht findet sich die Erzählerin mit einem wildfremden, kekssüchtigen Psychologen, dem Hund ihrer Schwester und einer Urne mit deren Asche im Auto unterwegs nach Marokko.
Nach und nach entwickelt sich aus der reichlich schrägen Situation der kleinen Reisegemeinschaft die unglückliche Verquickung der beiden Schwestern, die sich aus ihrer völlig konträren Interpretation der gemeinsamen Kindheit heraus bewusst von einander distanzierten und dennoch verquer auf einander bezogenen blieben.
"Portrait eines Balkonsitzers" nennt die 1962 geborene Margit Kuchler-D'Aiello ihren ersten Roman über einen uneingestandenen Pensionsschock. Der einzige Akteur, der auf seine Initiale reduziert bleibt, ist der mit seinem Alter hadernde Titelheld selbst, der seine Balkonidylle zu genießen vorgibt, während seine Frau und die drei erwachsenen Kinder in je eigene Katastrophen schlittern. Daran ist er nicht ohne Schuld, wie allmählich - und mitunter vielleicht zu deutlich ausgesprochen - sichtbar wird, während er sich in eine Liebesaffäre mit einer jungen Fotografin hineinfantasiert. Mit unaufgeregter Geste - selten nur wirken Formulierungen in der Tonlage zu hoch gegriffen - entwickelt die Autorin die brüchigen Identitäten der Figuren, die einander nahe sind und doch fremd bleiben.
Auch auf dem Spannungssektor gab es 2008 selbst für krimimüde Leser überraschend Anregendes zu entdecken: Peter Oberdorfer, 1971 in Innsbruck geboren, stellt in "Kreuzigers Tod" (Deutscher Taschenbuch Verlag) einen desillusionierten Landinspektor vor und konfrontiert ihn mit dunklen Geschichten aus der NS-Vergangenheit, vor allem aber mit dem ganz alltäglichen Unglück der Menschen.
Und Amaryllis Sommerer, geboren 1954 in Wien, legt mit dem Psychothriller "Selmas Zeichen" (Milena) einen Stalking-Roman vor, der allzu schrille Töne vermeidet und dennoch das immer enger werdende Bedrohungsszenario spannend entwickelt. Ihre Heldin ist keine künstliche Szenefigur, sondern eine lebendige Frau, deren Alltag - samt der Beziehung mit dem getrennt wohnenden Lebensabschnittsbegleiter - allmählich aus den Fugen gerät.
Doris Mitterbacher, geboren 1975 in Schwetzingen, ist als Mieze Medusa in der heimischen Off-Szene seit langem bekannt. In ihrem ersten Roman "Freischnorcheln" (Milena) erzählt sie ein wenig flapsig von einem heißen Sommer im Leben einer jungen Grafikerin; sie ist eine leidenschaftliche Schwimmerin mit besonderer Beziehung zum Donauweibchen, und flieht nach einem entgleisten Sadomasospiel mit einem ihrer Ex-Auftraggeber nach Portugal. Doch alles löst sich schließlich in Wohlgefallen auf und hinterlässt auch im Leser keine allzu tiefen Spuren.
Glossen-Ton
Schließlich präsentierte auch die Kolumnistin Andrea Maria Dusl, Jahrgang 1961, mit "Boboville" (Residenz) ihren ersten Roman. Eigentlich ist die Autorin ihrem Genre treu geblieben: trotz einiger erzählenderer Abschnitte überwiegt der Glossen-Eindruck, was die Dramaturgie der Textteile betrifft, die Themenpalette und auch die Sprache. Mit einem Augenzwinkern beruft sich Dusl auf Thomas Bernhards Tiradenton, wohl wissend, dass der vom Gewicht der Inhalte lebt, kindliche Phantasien rund um ein Zuckerlgeschäft aber leichter wiegen. Vergnüglich zu lesen ist "Boboville" bestimmt, vor allem für jene, die sich darin beschrieben finden - oder wähnen.
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