Liebe in unsicheren Zeiten

19451960198020002020

Angesichts massiver Orientierungsverluste in der Postmoderne wird romantische Liebe immer unwahrscheinlicher, andererseits aber auch zum möglichen Rettungsanker.

19451960198020002020

Angesichts massiver Orientierungsverluste in der Postmoderne wird romantische Liebe immer unwahrscheinlicher, andererseits aber auch zum möglichen Rettungsanker.

Werbung
Werbung
Werbung

Love is all around" - dieser Songtitel war 1993/94 überall zu hören. Die britische Band Wet Wet Wet hatte eine Komposition der Troggs neu aufgenommen und die Filmkomödie "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" machte den Song weltberühmt. Im Sommer 1994 war er 15 Wochen lang auf Platz 1 der britischen Charts, das schafften sonst nur zwei andere Singles in der Geschichte der britischen Hitparade.

Auch in der Literatur ist Liebe zwischen den Geschlechtern eines der beherrschenden Themen, oder um es mit einem alten Akademikerwitz zu sagen: Die Literatur hat eigentlich nur zwei Themen, Liebe und Tod. Passenderweise hat Patrick Süskind im Jahr 2006 genau diese Überschrift für einen Essay gewählt, "Über Liebe und Tod", und darin festgestellt: "Was der heilige Augustinus über die Zeit sagt, gilt nicht minder für die Liebe. Je weniger Gedanken wir uns über sie machen, desto selbstverständlicher erscheint sie uns; wenn wir aber anfangen, über sie nachzugrübeln, kommen wir in Teufels Küche."

Liebe als Code

Der bekannte Literaturwissenschafter Peter von Matt hat die Faszination der Liebe in einem Vortrag vom September 2010, gedruckt in der Zeitschrift allmende, durch ihr Geheimnis erklärt: "Die Liebe ist ein Ereignis, das von keiner Deutung eingeholt werden kann. Immer bleibt ein Rest, der nicht zu begreifen ist. Das hat die Liebe mit dem Tod gemeinsam."

Blickt man auf die Liebesbeziehungen von Figuren in literarischen Texten, dann lassen sich aber durchaus Muster finden, wer wen warum liebt oder nicht liebt, und diese Muster haben sich im Lauf der Zeit verändert. Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seiner Studie "Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität" aus dem Jahr 1982 Liebe als "symbolischen Code" bezeichnet und die historische Entwicklung skizziert. Die Bezeichnung "Code" bedeutet für Luhmann nicht, dass Gefühle keine Rolle spielen würden, ganz im Gegenteil: "Man kann bei Liebe nicht nicht an Sinnlichkeit denken." Gefühle wie das Fühlen eines körperlichen Begehrens müssen aber nach einem für die oder den anderen verstehbaren und akzeptierbaren Ausdruck streben, wollen sie erfolgreich sein. Und das gilt auch für Liebesbeziehungen in der Literatur.

Liebe und Krankheit

Nehmen wir als Beispiel Urs Faes, geboren 1947, der zu den bekannteren Schweizer Autoren zählt, sein Werk erscheint im Suhrkamp-Verlag. Der Roman "Paarbildung", veröffentlicht im Herbst 2010, schildert die Liebesbeziehung zwischen Andreas Lüscher, der als Gesprächstherapeut in der Onkologie eines Krankenhauses arbeitet, und der Juristin Meret Etter. Meret ist Anfang 40, Andreas einige Jahre älter. Die beiden waren in ihrer Studienzeit über viele Jahre ein Paar, verloren sich während der beruflichen Karriere aus den Augen, kamen dann aber wieder zusammen, um sich erneut zu trennen. Die Handlung setzt ein, als Andreas erfährt, dass Meret wegen Brustkrebs in der Klinik behandelt wird und er mit ihr vorbereitende Gespräche führen soll.

Liebe und Krankheit werden miteinander verbunden, bereits im Romantitel, der nicht nur auf die Liebesbeziehung der beiden und auf deren Prozesscharakter verweist, sondern auch ein medizinischer Begriff "für den Strahlenabsorptionseffekt" ist. Andreas und Meret haben sich 1981 auf dem Höhepunkt studentischer Unruhen in Zürich kennen- und lieben gelernt, kurz nachdem Andreas, aus Zweifel an den dort gelehrten "Theorien des menschlichen Seins", aus "der Vorlesung hinausgelaufen" war. Im Kino sah er dann - was auch sonst! - einen Film über die Liebe, "L'amour des femmes", einen französischen Spielfilm von 1981: "Hier wurde die Liebe nicht theoretisch analysiert, sondern leidenschaftlich, leiblich ausgelebt." Das geschieht allerdings um den Preis der Dauerhaftigkeit. Andreas und Meret verhalten sich genauso wie die Paare im Film - sie gehen ihren beruflichen und privaten Interessen nach, verbringen ihre Zeit allein zuhause und sehnen sich dennoch nach dem Partner. Der Romanschluss lässt offen, ob sie im fortgeschrittenen Alter das Episodenhafte ihrer Beziehung überwinden können. (Rezension siehe S. 8.)

Typische Paarbeziehung

Faes' Roman zeichnet eine Paarbeziehung, die typisch für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur der letzten Jahrzehnte ist. Beispiele gibt es wie runde Kiesel am Strand des Urlaubsflirts. Man denke etwa an die Werke Martin Walsers, die Liebe im Titel führen, hier gibt es allein im abgelaufenen Jahrzehnt drei Romane -"Der Lebenslauf der Liebe" (2001), "Der Augenblick der Liebe" (2004) und "Ein liebender Mann" (2008). Während bei Walser problematische Lieben aus der Perspektive älterer Männer verhandelt werden, sind es bei dem seinerzeit erfolgreichen Jungautor Benjamin Lebert, etwa in "Crazy" (1999) und "Der Vogel ist ein Rabe" (2003), junge Männer, die mit der Liebe Probleme haben. In Zoë Jennys "Das Blütenstaubzimmer" (1997), Charlotte Roches "Feuchtgebiete", dem Bestseller des Jahres 2008, oder Helene Hegemanns umstrittenem "Axolotl Roadkill" (2009) wird das Liebesleid aus der Perspektive einer jungen Frau beschrieben.

Versuche, die scheitern

Besonders erfolgreich inszenieren Judith Hermanns Erzählungen in den Bänden "Sommerhaus, später" (1998) und "Nichts als Gespenster" (2003) postmoderne, in Beliebigkeit mündende Paarbeziehungen, der Kritiker Hellmuth Karasek schwärmte in der ZDF-Aspekte-Sendung "Das literarische Quartett" sogar vom "sehr traurig machenden Sound einer neuen Generation".

Auch in Christian Krachts Roman "Faserland" (1995), mit dem die sogenannte Pop-Literatur der 1990er Jahre begann, und in Benjamin von Stuckrad-Barres "Soloalbum" (1998), aber auch in voraussetzungsreicheren Texten wie in Thomas Meineckes "Tomboy" (1998), Sven Regeners "Herr Lehmann" (2001), Raoul Schrotts historisch und intertextuell breit angelegtem Roman "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde" (2003) oder Helmut Kraussers Episodenroman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" (2009), um nur wenige weitere Beispiele zu nennen, geht es um die Frage, wie in einer unsicher gewordenen Gegenwart eine Liebesbeziehung noch möglich sein kann, und fast immer scheitern die Versuche. Helmut Krausser ist ein gutes Beispiel, weil er sogar zwei Romane nach den für Sigmund Freud grundlegenden Trieben des Menschen benannt hat: "Eros" (2006) und "Thanatos" (1996). Auch Kraussers vorläufig letzter Roman, "Die letzten schönen Tage", rückt Paarbeziehungen in den Mittelpunkt. Serge und Kati lieben sich, aber Serge kann Kati sexuell nicht befriedigen und sie hat, mit schlechtem Gewissen, ein Verhältnis mit David. Was dann geschieht, liest sich wie eine Illustration des folgenden Satzes von Niklas Luhmann: "Die Tragik liegt nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinanderkommen; sie liegt darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann." Immerhin eröffnet Kraussers Roman am Schluss für zwei Figuren eine neue Perspektive.

Mit den immer weiter zunehmenden Kontingenzerfahrungen der Postmoderne, in Zeiten von massiven Orientierungsverlusten und brüchig gewordenen Sozialbeziehungen, wird der Code der romantischen Liebe, die Vorstellung von der lebenslangen harmonischen Liebesbeziehung, einerseits immer unwahrscheinlicher, andererseits aber auch zum möglichen Rettungsanker. Sexualität ist in der postmodernen Warenwelt zum Prüfstein für das Funktionieren von Liebe geworden, zugleich ist Sexualität allgegenwärtig und damit fast wertlos, zumindest entwertet. Die Gegenwartsliteratur zeigt in zahlreichen Versuchsanordnungen genau dieses Problem und stellt Lösungsmöglichkeiten zur Disposition, auch und gerade durch Aussparung wie in Faes' oder Kraussers Romanen.

Liebe, post-romantisch

Die Figuren sind auf der Suche nach einen post-romantischen Liebescode, der alle äußeren und inneren Widerstände der heutigen Zeit aushält. Das gilt nicht nur für die deutschsprachige Literatur, man denke an die radikale Zeichnung von Liebesbeziehungen bei Autoren wie Bret Easton Ellis, Catherine Millet oder Michel Houellebecq. In Houellebecqs Roman "Plattform" (2001) beispielsweise macht der farblose kleine Beamte Michel eine Reise nach Thailand und genießt dort sexuelle Freizügigkeit, verliebt sich nach seiner Rückkehr aber in seine Mitreisende Valérie. Der Roman endet in kleinbürgerlicher Romantik, die durch die Risiken der Gegenwart im Wortsinne gesprengt wird (Valérie wird Opfer eines Attentats).

Freilich finden sich auch viele Texte, die eine geglückte Liebesbeziehung andeuten. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gehen solche Fiktionen von einer naiven Leserperspektive aus, die mögliche Probleme verdrängen will, dann sind die Texte trivial - das Genre des Liebesromans erlebt bekanntlich einen Boom nach dem anderen. Oder die Probleme von Liebesbeziehungen werden thematisiert und durchgespielt.

Allerdings scheint hier die Grenze fließend geworden zu sein. Klischees und triviale Formulierungen finden sich heute selbst in Texten, die es, beispielsweise durch medienwirksam inszenierte Skandalisierungen, geschafft haben, auch von der Kritik wahrgenommen zu werden. Dazu zählen die Romane von Michel Houellebecq oder von Charlotte Roche ebenso wie zahlreiche Romane und Erzählungen der sogenannten (jüngeren) Popliteratur.

Witziger Ausweg

Einen witzigen Ausweg, den romantischen Liebescode vor seinen trivialen Verfechtern zu retten, hat Wolf Haas gefunden. In seinem 2006 erschienenen Roman "Das Wetter vor 15 Jahren" lässt er Vittorio Kowalski auf spektakuläre Weise seine Jugendliebe Anni zurückerobern, allerdings erfährt dies der Leser nur durch ein Gespräch zwischen einer "Literaturbeilage" genannten Kritikerin und einer Autorfigur namens "Wolf Haas", die beide zugleich Parodien auf heutige Kritiker und Autoren sind.

Ob die Hauptfiguren schon als Jugendliche ein Paar waren, verrät "Wolf Haas" erst, nachdem die Journalistin ihr Mikrofon abgeschaltet hat. Und hier, im literarischen Kunstgriff, im Aussparen des Wesentlichen, im Platzlassen für die Phantasie der Leser und Leserinnen ist jener 'Rest' zu finden, über den Peter von Matt geschrieben hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung