Das erste Jahrzehnt

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Julya rabInowIch Ist bIldende KünstlerIn, dolmetscherIn - und schrIftstellerIn. eIn gespräch über Ihre prosawerKe "spaltKopf" und "herznovelle", über Ihre arbeIt mIt flüchtlIngen und über verdrängung und obsessIon.

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Julya rabInowIch Ist bIldende KünstlerIn, dolmetscherIn - und schrIftstellerIn. eIn gespräch über Ihre prosawerKe "spaltKopf" und "herznovelle", über Ihre arbeIt mIt flüchtlIngen und über verdrängung und obsessIon.

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Am Anfang des neuen Jahrtausends standen die "Berichte aus Quarantanien", herausgegeben von Isolde Charim und Doron Rabinovici, nach den EU-Sanktionen gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Die Folgen dieser Ära beschäftigen die Gerichte bis heute, und da für die Akteure immer noch die Unschuldsvermutung zu gelten hat, ist vielleicht doch ein Theaterstück, nämlich Florian Scheubas "Unschuldsvermutung" (2011), der Text des Jahrzehnts. Von dem als Modernisierung verkauften Sozialabbau ist die Institution des Prekariats geblieben, deren soziale Folgekosten Autorinnen und Autoren wie Kathrin Röggla, Hanno Millesi oder Margit Hahn vermessen. Und am Anfang stand auch der schon fast vergessene vorletzte Börsencrash, das Platzen der New-Economy-Blase, von deren kriminellen Implikationen Paul Divjaks Schulabbrecher und Wallstreet-Broker "Kinsky"(2007) erzählt.

Internet und E-Mail-Roman

Von den vielen literarischen Optionen und Begriffen hingegen, die in der ersten Internet-Euphorie aufgetaucht sind, ist weniger übrig geblieben, als man erwartet hätte. Nach wie vor erscheinen literarische Internet-Projekte früher oder später -meist früher -als Bücher. Auch Ann Cottens Online-Projekt "Glossarattrappen" (www. glossarattrappen.de), das einen Pool aus Texten und Bildern für immer neu abrufbare Kombinationen bereitstellt, endet damit, dass sich der User beim kooperierenden Verlag die Variantensammlung als Buch ausdrucken lassen kann.

Vorhersehbar war der E-Mail-Roman -so wie die Explosion der Briefkultur im 18. Jahrhundert den Briefroman gebar. Der große Erfolg von Daniel Glattauers "Gut gegen Nordwind" (2006) und der Fortsetzung "Alle sieben Wellen" (2009) hat auch gezeigt, dass im 21. Jahrhundert der Märchenprinz nicht mehr aus der Trivialliteratur imaginiert wird, sondern aus dem Chatroom. Ende 2010 startete Manfred Chobot auch einen ersten heimischen SMS-Fortsetzungsroman, auch das ein einlässig präsentierter Liebesroman. Vielleicht hat es mit dem aktuellen Primat spannender Plots und sprachlich glatter Oberflächen zu tun, dass Technologieschübe eher erzählerisch als phänomenologisch bearbeitet werden.

Beigetragen hat das wohl auch zur Krimi-Flut - immerhin begann das Jahrzehnt auch mit Alfred Komareks Krimi-Debüt "Polt muss weinen"(2000). Das hat die Vorstellung genährt, was ein Krimi ist, verkaufe sich auch gut. Schon Gerhard Roth implementierte in seinem Orkus-Zyklus kriminalistische Handlungsstrukturen, und selbst Lilian Faschinger, Paulus Hochgatterer und Sabine Scholl versuchten einen Genrewechsel. Transgressionen zwischen Krimi und Roman sind alltäglich geworden, in beide Richtungen. Heinrich Steinfest, die eigenwilligste Stimme der heimischen Krimiszene, verzichtete trotz veritabler Leichendichte bei "Gewitter über Pluto" (2009) erstmals auf die Bezeichnung Krimi.

Überraschenderweise hat es eine Reihe innovativer Wiederbelebungen abgelegter Genres gegeben, vom Sonett bei Ann Cotten bis zum lyrischen Hymnus in Christoph Ransmayrs "Der fliegende Berg" (2006). Selbst der Novellenkranz ist 2009 wieder auferstanden, mit Daniel Kehlmanns Erzählreigen über alltagspraktische Folgen der Mobiltelefonie "Ruhm", Robert Menasses dichtem biografischen Erzählband "Ich kann jeder sagen" oder Eva Menasses "Lässliche Todsünden".

Moral und Vergangenheit

Die Frage, welche Moralregeln nach dem Wegfall alter Werte und Bindungen noch Gültigkeit haben, griff Norbert Silberbauer bereits 2002 mit seiner Exemplasammlung "Die elf Gebote" auf. Am radikalsten arbeitet sich Elfriede Jelinek seit Jahren daran ab -"Gier" erschien 2000, "Neid" ist seit 2007 online zugänglich.

Thematisch vielleicht mit Abstand nach wie vor am präsentesten sind erzählende Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit, nicht nur von Autorinnen und Autoren, denen das ein Lebensthema ist wie bei Anna Mitgutsch, Erich Hackl oder Doron Rabinovici.

Mitunter scheint die NS-Bewältigungsliteratur ein wenig in die Schleife zu geraten, vielleicht weil sie altersbedingt mittlerweile bei der Lebensgeschichte der Großeltern angelangt ist, vor allem aber, wenn sie sich den Nazi-Vätern zuwendet und dabei von falschen Prämissen ausgeht: Diese Vätergeneration war wie alle vorangegangenen für ihre Kinder unerreichbar dazu bedurfte es keiner Kriegstraumata, es war das "normale" Väterverhalten, das sich erst in allerjüngster Zeit zu verändern begann.

Bewältigt ist auch nichts, was den Krieg vor Österreichs Haustür betrifft, und die -zum Teil auch selbstverschuldeten - Missverständnisse rund um Peter Handkes Kampf gegen medial einseitige Wahrnehmung der Konflikte. Handke setzte seine Auseinandersetzung im selbstironische Resümee seines bisherigen Autorenlebens "Die morawische Nacht" (2008) ebenso fort wie in seinem Theatertext "Immer noch Sturm"(2010). Wie schwierig literarische Beiträge zum Thema sind, zeigen auch Norbert Gstreins "Das Handwerk des Tötens" (2003) und "Die Winter im Süden" (2008) und Anna Kims "Die gefrorene Zeit".

Gewalt und Amok

Generell hat die Gewaltpräsenz in der Gesellschaft wie in den medialen Diskursen die Blutbäder in der Literatur sprunghaft ansteigen lassen, nicht nur in Amokläufen wie in Olga Flors "Kollateralschaden" (2008) oder Peter Roseis "Das große Töten" (2009). Drastische Körperbilder invadieren die Verarbeitungen von (kindlichen) Verletzungen und Geschlechterkämpfen wie bei Sophie Reyer, Michaela Falkner oder auch in Lydia Mischkulnigs "Schwestern der Angst" (2010), die in "Umarmung" (2002) die unblutigste, aber vielleicht radikalste Version einer Inkorporation beschrieb.

Hier hat die Jahrtausendwende eine Art Genderwechsel ge4bracht: Als in den 1970er Jahren Autorinnen daran gingen, ihre Stellung in Familie und Gesellschaft zu hinterfragen, erfanden die Kritiker umgehend das Label "Frauenselbsterfahrungsliteratur". Autorinnen wie die 2010 verstorbene Brigitte Schwaiger wurden letztlich auch Opfer dieser rasch auf-und noch viel rascher wieder zugemachten Schublade.

Nun lassen Autoren ihre männlichen Protagonisten über eingeforderte Adaptionen des Männerbildes und vermeintliche Terrainverluste reflektieren; das kann ein Herrenausflug sein wie in Hochgatterers "Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen" (2003), ein Monolog wie in Gustav Ernsts " Grado. Süße Nacht" (2004) oder eine Lebens-Liebesbilanz wie in Robert Menasses "Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust" (2007). Daraus ergibt sich ein anderes symptomatisches Phänomen: Wohl seit dem Aufbrechen sexueller Tabus in den 1970er Jahren, und vielleicht in Reaktion auf die "Feuchtgebiete"-Debatten, war nie mehr so viel über Onanierpraktiken und sexuelle Fantasien männlicher Akteure zu lesen wie in den letzten Jahren.

Familien und Kulturen

Gleichzeitig erlebt die Familiengeschichte in der jungen Generation ein überraschendes Revival. Andrea Grill startete mit dem Familienalbum "Der gelbe Onkel"(2005), Robert Seethaler baut in seinen poetischen Roadmovies ganz eigene (Wahl-)Familiengebilde auf, Arno Geiger reüssierte mit seiner Familiensaga "Es geht uns gut" (2005). Die aufgebrochenen Familienstrukturen ließen Patchworkformen des Zusammenlebens zur Normalität werden, und das erfordert neue Formen und Rituale für die Begegnung der Geschlechter, nachzulesen etwa bei Angelika Reitzer, und auch für den Abschied im Todesfall, wie das Anna Mitgutsch in "Wenn du wieder kommst" (2010) vorführt.

Auch was Familienstrukturen betrifft, ist von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund einiges zu erwarten, genauso wie in Bezug auf Bildsprache und Mythen. Literatur als Beitrag gegen Kulturkampftheoretiker, das hat endlich einer Autorin wie Barbara Frischmuth wieder mehr Aufmerksamkeit gebracht, mit ihrem offenen Blick für fremde Kulturen und Probleme wie Chancen interkulturellen Zusammenlebens.

Alter und Tod

Das Thema Altern beginnt unter dem Diktat ewiger Jugendlichkeit immer früher, was Marlene Streeruwitz seit "Jessica, 30" (2004) immer wieder abhandelt. Es rückt mit der demografischen Entwicklung verstärkt in den Blickpunkt wie in Elisabeth Reicharts "Das Haus der sterbenden Männer"(2005), oder ganz simpel aufgrund des eigenen Alterns, wie in Michael Köhlmeiers "Abendland"(2007) mit dem älteren Herrenpaar samt Inkontinenzproblemen.

Die jüngere Generation wiederum wird mit dem Tod der Eltern konfrontiert. Nach der politisch motivierten Elternbesichtigung der 1970er Jahre ist mit einer neuen Welle an Vater-und Mutterbüchern zu rechnen, bei der es stärker um altersbedingte Krankheitsbilder geht wie in Gudrun Seidenauers "Aufgetrennte Tage"(2009) oder zuletzt in Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil".

Mit dem Tod zentraler Repräsentanten der Moderne nach 1945 ist das Ende einer Generation besiegelt: 2000 verstarben mit H. C. Artmann und Ernst Jandl Vater und Onkel der Wiener Gruppe.

Aber geduldige Sprachartisten wie Oswald Egger, Hansjörg Zauner, Elfriede Czurda, Werner Kofler oder auch Günther Kaip sind weiterhin an der Arbeit und stellen Denk-und Weltbilder auf die Probe. Und es gibt in diesem Segment durchaus neue Stimmen, wie Lisa Spalt und Brigitta Falkner, aber auch Gabriele Petricek, Andrea Winkler oder Bernhard Strobel.

Ein neues Format entstand aus der Präsentation der Texte: Mit den Poetry Slams schuf sich eine junge Generation parallele Strukturen - die mittlerweile freilich in die etablierten Räume des Betriebs eingegliedert sind - mit der in den Containerformaten eingeübten Bewertungsinstanz Publikumsakklamation. Die Kürze der Texte und die Schnelligkeit ihres Entstehens verleihen ihnen etwas Frisches; in Sammelbänden publiziert zeigen sie bei aller Unbekümmertheit um grammatische oder thematische Kohärenz auch, wie sich hier eine Generation die spielerischen Potenziale der Sprache neu erarbeitet.

EvElynE Polt-HEinzl, Literaturwissenschafterin und -kritikerin. Publikationen zur Literatur um 1900 und der Nachkriegszeit, Frauenliteratur, Lesekultur und Buchmarkt sowie kulturwissenschaftliche Motivuntersuchungen. Aktuell: "Peter Handke. In Gegenwelten unterwegs"(Sonderzahl).

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