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Russland ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2003. Kostproben aus dem vielfältigen Schaffen eines weiten Landes.

Was weiß man hierzulande schon über russische Literatur? Viele sind wohl über Dostojewskij, Tolstoj und ihre Zeitgenossen kaum hinausgekommen. Jewtuschenko ist wahrscheinlich noch ein Begriff. Und Solschenizyn natürlich, der vom Archipel GULAG in den letzten Jahren dazu übergegangen ist, den Krieg gegen Tschetschenien zu verteidigen.

Weitgehend unbekannt

Vielleicht kennt man auch noch den einen oder anderen jungen Autor, der den Sprung in einen deutschen Verlag geschafft hat. Kaminers "Russendisko" oder Peleweins "Generation P" wurden ja auch ohne Frankfurter Buchmesse gern gekauft und gelesen. Aber wirklich präsent war Literatur aus Russland bislang hierzulande nicht.

Über "die russische Literatur" lässt sich ebenso wenig sprechen wie über "die Russen". Zu vielfältig sind die Genres, zu einträchtig - oder keineswegs immer einträchtig - existieren verschiedene Literaturtraditionen und neue, originäre Ideen nebeneinander. Da verliert sich einer augenzwinkernd in die Mystik, ein anderer macht sich über alle Ideologien auf einmal lustig, ein dritter skizziert die Mühsal des Alltagslebens, eine vierte schreibt überaus erfolgreiche Krimis, die sich in zweistelligen Millionenzahlen verkaufen - und von der einstigen Trennung in Samisdat und offizielle Literatur wollen junge AutorInnen oft auch nichts mehr wissen. Bleibt noch die Frage, ob eine/r sich in den Kanon der Literaturwissenschaft schreiben will oder lieber für ein bequemes Auskommen - oder gar das Kunststück schafft, das eine mit dem anderen zu verbinden. Ein weites Land und ein weites literarisches Feld in jeder Hinsicht.

Vielfältig bunt

Gemeinsam haben die verschiedenen Autoren und Romane (nicht nur) auf den ersten Blick tatsächlich wenig. Allenfalls wäre da ein gewisser Hang zur Familie zu orten, es wimmelt nach wie vor von Babuschkas und Tjotjas, und die Handlung beginnt oft schon vor der Geburt der Hauptfigur, deren komplizierte verwandtschaftliche Verhältnisse uns mit sämtlichen Vor- und Vatersnamen ganz gerne mitgeteilt werden - das aber auch ironisch, mit dem Augenzwinkern eines Literaten, der weiß, aus welcher Tradition er kommt, aber eben seinen eigenen Weg gefunden hat. Beliebt ist auch ein gewisser Hang zum Absurden, zur Mystik und zum Aberglauben, gewürzt mit schwarzem Humor. Aber auch das trifft - selbstredend - nicht auf alle zu.

Die folgenden Rezensionen wollen nicht mehr (und nicht weniger), als einen ersten Vorgeschmack bieten.

Irre ideologisch

Pawel Dalinin, im Allgemeinen Einwohner des zeitgenössischen Moskau, begegnet auf einer seltsamen Party seiner schwangeren Mutter (die vor langer Zeit bei der Geburt ihres einzigen Kindes verstarb), schlägt seinem Vater bei einer Prügelei die Zähne aus und zeugt mit einer Bekannten seiner Eltern selbst einen Sohn, der ihm am Ende zum Verhängnis wird.

Jurij Mamelejews "Irrlichternde Zeit" führt uns durch ein mystisches Moskau, in dem - völlig unbehelligt vom viel zitierten Turbokapitalismus - Magier, Mystiker, esoterische Zirkel und ihre Gurus auf der Suche nach den letzten Dingen sind und die Realität in absurde Ideologien zerfällt, die das Unerklärliche erklären wollen. Mamelejew macht sich auf Bulgakowsche Weise lustig über seine Zeitgenossen und ihre Suche nach dem Sinn des Lebens, die sie an die abstrusesten Dinge glauben lässt. Der 1931 in Moskau geborene Autor wird von einer Generation jüngerer Kollegen um Vladimir Sorokin und Viktor Jerofejew als Erbe Gogols und Dostojewskijs verehrt und verschafft seinen Lesern intellektuelles Vergnügen erster Klasse.

Unheimlich verliebt

"Was man fürchtet, das begehrt man." So ergeht es frei nach Kierkegaard dem Ich-Erzähler in Oleg Postnows Roman "Angst". Postnow erzählt die Geschichte einer seltsamen Liebe zu einer undurchschaubaren, unheimlichen Frau, die bis in beider Kindheit zurückreicht, in ein von allerlei Aberglauben durchsetztes ukrainisches Dorf, von dem sich der unglücklich Verliebte bis zuletzt nicht geistig lösen kann. Dass der Autor den ganzen Mythenzauber nicht so richtig ernst nimmt, vermutet man allmählich mit breiter werdendem Schmunzeln, bis auf den letzten Seiten die Angebetete trocken und alles andere als einfühlsam ihre Version der Geschichte preisgibt, eine gelungene Überraschung.

Verwickelt räsoniert

Ein aus Petersburg stammender Schriftsteller verkleidet sich als Frau, um in den Genuss eines Forschungsstipendiums im fiktiven Kleinstädtchen Judenschlucht zu kommen, irgendwo an der deutsch-tschechischen Grenze. Dort ist man von ihm begeistert: er tut den Mund nicht auf, um seine Tarnung nicht zu verraten, und erfüllt damit nicht nur die Frauenquote, sondern auch die für Behinderte. Und erforschen will er keineswegs nur das, wofür man ihn bezahlt.

Oleg Jurjews "Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise", ein "Roman in fünf Satiren", tut sich gütlich an halbherziger Vergangenheitsbewältigung und verlogener Wissenschafts- und Literaturszene. Erzählt wird so verwickelt und verschachtelt, mit so vielen Ausflügen in reale historische Begebenheiten, dass den Leser das Gefühl befällt, es werde eigentlich gar nichts erzählt. Eher räsoniert. Realität, Fiktion und Zitate sind verwoben zu einem ausgeklügelten Netz, dessen Einzelfäden sich kaum mehr entwirren lassen. Wer auch in diesem Jahrtausend noch der Meinung ist, zu einem Roman gehöre eine einigermaßen überschaubare Handlung, der lasse also besser die Finger von diesem Buch. Allen anderen: viel Vergnügen!

Einfach erzählt

Pavel Lemberskys Geschichten sind so aus dem Leben gegriffen, dass sie schon gar keine Geschichten mehr sind - und auch nicht vorgeben, welche zu sein. Es geht, worum es im Alltag eben so geht und wie nebenbei um Freundschaft, Liebe und Tod. In einfacher Sprache, als würde am Stammtisch erzählt, und mit vielen Verflechtungen, keineswegs linear, so als würde man mit jemandem sprechen, der die Beteiligten ohnehin schon kennt, und die Rechnung geht auf: es kommt dem Leser tatsächlich so vor als ob.

Dabei sind die Figuren oft reichlich skurril - und was ihnen begegnet ebenfalls. Neue Russen, alte Intellektuellen und komische Käuze, geschildert mit einem kräftigen Schuss makaberen Humors.

Ein bisschen verstaubt

Boris Schitkow (1882-1938) wurde bekannt als Kinderbuchautor des sozialistischen Realismus. Ein Hohn des Schicksals, wenn man bedenkt, dass sein Hauptwerk, der Roman "Wiktor Wawitsch", erst 1999 in Russland erscheinen konnte, lange nach dem Tod des Schriftstellers. Die ideologischen und politischen Verwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die er beschreibt, waren nicht sozialistisch genug, und ihr Autor legte sich zu wenig fest, sympathisierte ein bisschen zu sehr mit anarchistischen Tendenzen.

Und die Hauptfigur, dieser Wiktor Wawitsch, der seine Soldatenlaufbahn verlässt, um Polizist zu werden, in der nicht näher bezeichneten großen Stadt N. für Recht und Ordnung zu sorgen, er war den Zensoren zu einfältig, um nicht zu sagen jämmerlich. So hatte ein sozialistischer Held nicht zu sein.

Heute wird "Wiktor Wawitsch" in eine Reihe gestellt mit Pasternaks "Doktor Schiwago" und Bulgakows "Meister und Margarita", ob verdientermaßen, darüber lässt sich streiten. Denn bei aller schriftstellerischen Leistung, dem ausgeklügelten Handlungsaufbau aus einzelnen Blitzlichtern, einer gewissen "flackernden Beleuchtung", merkt man Wawitsch doch ein wenig den Staub aus der Schublade an.

Mehrfach vergeben

Alexander Ikonnikow ist in der deutschsprachigen Literaturszene kein Unbekannter mehr. Schon im vergangenen Jahr wurden der 1974 bei Kirow geborene Autor und sein Erzählband "Taiga Blues" als Entdeckung gefeiert. "Liska und ihre Männer" ist sein erster Roman.

Liska Ogurzowa entflieht der kleinstädtischen Enge in den nächstgrößeren Ort, um dort ihr Glück zu suchen, und das besteht, wie uns der Titel schon verrät, vor allem im Liebesglück. Doch erweisen sich die Männer bei näherer Betrachtung leider nicht immer als das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Der erste ist jedenfalls nicht der Richtige. Und der zweite auch nicht. Und der dritte, nun ja. Gut Ding braucht Weile.

Hinreißend komisch und trotzdem mitfühlend erzählt Ikonnikow vom Liebesleben und -leiden seiner Figuren, von ihrem täglichen Abstrampeln in der modernen russischen Gesellschaft.

Gewohnt überraschend

Polina Daschkowa zählt zu den beliebtesten Krimiautorinnen Russlands, über 16 Millionen ihrer Bücher wurden bisher verkauft. In "Russische Orchidee" ermitteln weniger die Polizisten als die (potenziellen) Täter, die die Spur einer legendenumwobenen Diamantenbrosche bis nach Kanada verfolgen, währenddessen ein Unschuldiger im Gefängnis sitzt. Am Ende kommt aber wie gewohnt die Wahrheit ans Licht, und die ist wie gewohnt dann doch ein wenig überraschend.

DIE BÜCHER:

DIE IRRLICHTERNDE ZEIT

Roman von Jurij Mamlejew

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003

336 Seiten, geb., e 23,60

ANGST

Roman von Oleg Postnow

Rowohlt Verlag, Berlin 2003

316 Seiten, geb., e 20,50

DER NEUE GOLEM ODER DER KRIEG DER KINDER UND GREISE

Roman in fünf Satiren von Oleg Jurjew

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003

278 Seiten, geb., e 23,60

FLUSS NR. 7

Erzählungen von Pawel Lembersky

Frankfurter Verlagsanstalt 2003

208 Seiten, geb., e 20,40

WIKTOR WAWITSCH

Roman von Boris Schitkow

Carl Hanser Verlag, München Wien 2003 735 Seiten, geb., e 28,70

LISKA UND IHRE MÄNNER

Roman von Alexander Ikonnikow

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003 189 Seiten, geb., e 18,50

RUSSISCHE ORCHIDEE

Roman von Polina Daschkowa

Aufbau-Verlag, Berlin 2003

435 Seiten, geb., e 20,60

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