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Zum Geleit!

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Heute scheint es uns selbstverständlich, daß das Parlament die Vertretung des ganzen Volkes darstellt, gewählt aut Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes. Unsere Generation hat last vergessen, dafj die Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechtes erst nach schwierigem Ringen um die Mitwirkung dės ganzen Volkes an der Gestaltung des öttentlichen Lebens durchgesetzt wurde. Wir sind uns heute kaurft noch der zwei Tatsachen bewußt: erstens, vor Einführung des allgemeinen Wahlrechtes im Jahre 1896 waren nur 1,7 Millionen Staatsbürger des damaligen Reiches wahlberechtigt gegenüber mehr als 5 Millionen nach seiner Einführung; zweitens, vor Einführung des gleichen Wahlrechtes im Jahre 1907 — also vor 50 Jahren — wählten 5000 Großgrundbesitzer 85 Abgeordnete, dagegen rund 5 Millionen Wähler der allgemeinen Wählerklasse nur 72.

Da die Volksvertretung den Willen des Volkes in allen seinen Teilen widerspiegeln soll, war es ein großer Fortschritt, daß durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht das Parlament ein Spiegelbild der Kräfteverhältnisse des ganzen Volkes wurde.

Das dem ganzen Volke eingeräumte Recht, das öffentliche Leben mitzugestalten, hat sich im Laufe der Zeit überaus fruchtbar ausgewirkt. Mit Freude dürfen wir feststellen, daß die breitesten Schichten des Volkes an dem staatlichen Leben mit großem Interesse teilnehmen und das eingeräumte Wahlrecht als eine Verpflichtung betrachten; denken wir nur an die hohen Prozentsätze der Wahlbeteiligung bei allen wichtigen Wahlen.

Durch diese Anteilnahme am öffentlichen Leben wurde auch das österreichische Staatsbewußtsein in einer sehr erfreulichen Weise immer lebendiger. Die breitesten Schichten unseres Volkes ,— vor allem auch der Arbeiterschaft — fühlen sich heute für ihr Staatswesen, für ihre demokratische Republik, mitverantwortlich. Der Wiederaufstieg Oesterreichs seit 1945 ist zu einem großen Teil auch in dieser Tatsache begründet. Durch die allgemeine positive Einstellung zu unserer staatlichen Gemeinschaft kann heute auch die Jugend ganz anders in unseren Staat hineinwachsen als dies in früheren Zeiten möglich war.

So besteht für uns alle begründeter Anlaß, der 50. Wiederkehr des Tages, an dem das allgemeine Wahlrecht auch zum gleichen Wahlrecht wurde, entsprechend zu gedenken. Ich begrüße es, daß die „Furche” die Bedeutung dieses wichtigen historischen Ereignisses in einer Sonderbeilage würdigt.

Präsident des Nationalrafes

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