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Allgemein oder persönlich?

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Ohne physische Präsenz vor einer Wahlkommission keine Stimmabgabe: Wählen ,,per Post” bleibt in Österreich - trotz vieler Anläufe-auch in Zukunft verfassungswidrig.

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Ohne physische Präsenz vor einer Wahlkommission keine Stimmabgabe: Wählen ,,per Post” bleibt in Österreich - trotz vieler Anläufe-auch in Zukunft verfassungswidrig.

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Die österreichische Bundesverfassung kennt neben dem geheimen und persönlichen Wahlrecht noch eine Reihe anderer Wahlgrundsätze, insbesondere aber den des allgemeinen Wahlrechtes. Diese Wahlrechtsgrundsätze stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander.

Will man das geheime und persönliche Wahlrecht in letzter Konsequenz verwirklichen, darf unter keinen Umständen eine andere Person beim Ausfüllen des Stimmzettels zusehen. Dies würde bedeuten, daß etwa Blinde für ihr ganzes Leben vom Wahlrecht ausgeschlossen wären. Damit wäre aber das allgemeine Wahlrecht verletzt.

Der Verfassungsgerichtshof scheint den Prinzipien des geheimen und persönlichen Wahlrechts einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem, daß jeder Staatsbürger von seinem Wahlrecht Gebrauch machen kann.

Während der Verfassungsgerichtshof nämlich aus dem Grundsatz des geheimen Wahlrechts die Verpflichtung des Gesetzgebers entnimmt, durch positives Tun die geheime Ausübung der Wahl in jedem Fall sicherzustellen, hat er etwa in einem Erkenntnis aus dem Jahr 1970, anläßlich der Beschwerde eines in gerichtlicher Untersuchungshaft stehenden Wahlberechtigten, behauptet, eine Verpflichtung des Staates, in diesem Fall besondere

Vorkehrungen zu treffen, um dem Betroffenen die Ausübung seines Wahlrechtes zu ermöglichen, bestehe nicht.

Die verfassungsgerichtliche Judikatur gibt keinen Hinweis darauf, warum in jenen Fällen, in denen die konsequente Verfolgung des geheimen und persönlichen Wahlprinzips der Sicherstellung des allgemeinen Wahlrechtes entgegensteht - mit Ausnahme des Falles der blinden und gebrechlichen Personen —, den erstgenannten Prinzipien zu Lasten des allgemeinen Wahlrechtes der Vorzug einzuräumen ist.

Dem Verfassungsgerichtshof scheint diese Problematik seines Spruches sehr wohl bewußt gewesen zu sein. Er stellt daher ausdrücklich fest, daß die umfassende Verwirklichung der Allgemeinheit einer Wahl auch in anderer Weise sichergestellt werden könne und nennt als Beispiele dafür die Einsetzung besonderer Wahlkommissionen oder entsprechender Staatsorgane.

Es ist durchaus zu begrüßen, wenn das Höchstgericht dem Gesetzgeber Wege weist, wie er dem angestrebten Ziel in verfassungsmäßig zulässiger Weise entsprechen könne. Es darf aber erwartet werden, daß sich der Gerichtshof dabei nicht auf bloße Behauptungen beschränkt, die einer Praktikabilitätsprüfung nicht standzuhalten vermögen.

Für bettlägerige und schwerbehinderte Wahlberechtigte mag der Besuch durch eine „fliegende Wahlkommission” am Krankenbett noch ein Ausweg sein; wenngleich solche Personen bei der Aussicht auf das Eintreffen einer aus mindestens fünf oder sechs Amtspersonen bestehenden Kommission wohl oftmals auf die Ausübung ihres Wahlrechtes verzichten werden.

Oder soll man nur ein einzelnes Organ zu dem am persönlichen Erscheinen vor der Wahlbehörde verhinderten Wähler senden und damit der Gefahr eines Wahlschwindels erst recht Tür und Tor öffnen?

Wie aber kann das Wahlrecht für andere Personen, die am

Wahltag nicht vor der Wahlbehörde erscheinen können, ohne Briefwahl sichergestellt werden? Für den, der einen kranken Angehörigen betreuen muß, der sich auf Kur befindet, der als Beamter, Eisenbahner, Handelsreisender, Saisonarbeiter, Autobuschauffeur usw. am Wahlsonntag nicht zu Hause sein kann?

Man kann kaum in ganz Österreich Wahlbehörden einrichten, wenn in einem Bundesland und dort vielleicht nicht einmal in allen Gemeinden gewählt wird.

Bliebe als einziger Ausweg, daß die Wahlbehörde schon Tage vor der Wahl zur Verfügung steht, mit all dem Verwaltungsaufwand und den technischen Problemen, die eine solche Lösung mit sich brächte. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß es zur Brief wähl keine wirklich praktisch handhabbare Alternative gibt.

Die Möglichkeit, die Briefwahl in Österreich einzuführen, bedürfte nach dem letzten Verfassungsgerichtshof-Erkenntnis einer Änderung der Bundesverfassung. Denn mag die Briefwahl auch den Buchstaben der österreichischen Bundesverfassung widersprechen: die Behauptung, daß sie einem demokratischen Wahlrecht schlechthin zuwiderlaufe, wird im Hinblick darauf, daß sie in der Mehrzahl der nichtkommunistischen Staaten Europas praktiziert wird, kaum zu halten sein.

Wenn eine solche Änderung der Bundesverfassung aus parteipolitischen Gründen nicht zustande kommen sollte, wird es Aufgabe der Wahlrechtsgesetzgeber sein, innerhalb der durch den Verfassungsgerichtshof gezogenen Schranken neue Wege zu suchen, um dem Grundsatz des allgemeinen Wahlrechtes zum vollen Durchbruch zu verhelfen.

Ein Wahlrecht, das zwar die geheime und persönliche Wahl absolut garantiert, einen Teil der Wähler jedoch de facto von ihrem verfassungsmäßig verbrieften Recht ausschließt, kann nicht als wahrhaft demokratisches Wahlrecht bezeichnet werden.

Der Autor ist Jurist und Klubsekretär der ÖVP Niederösterreich und Verfasser des Gesetzentwurfes zur Wahlordnung für die niederösterreichischen Statutarstädte, der die Briefwahl vorgesehen hat und vom Verfassungsgerichtshof am 16. März 1985 aufgehoben wurde.

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