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Albert Camus glaubte nicht an Gott, verarbeitete aber in dem Roman "Der Fall“ sowie in der Novelle "Der treibende Stein“ tiefgehende Kenntnis der Bibel.

"Ich glaube nicht an Gott, das stimmt. Aber ich bin deshalb kein Atheist.“ So sprach Camus anlässlich des Erscheinens von "la chute“ - "Der Fall“ - in einem Interview mit Le Monde im Oktober 1956. Wie sehr ihn die Person des Jesus von Nazaret anzog, bekannte er im gleichen Interview. Der Protagonist des neuen Romans namens Jean-Baptiste Clamence sei auch kein Christ, stellte Camus fest, aber "wie er, empfinde ich viel Freundschaft für den ersten unter ihnen. Ich bewundere die Art, wie er gelebt hat, und wie er gestorben ist. Meine mangelnde Vorstellungskraft verbietet mir, ihm weiter zu folgen.“ Für den Glauben an die Auferstehung fehlte Camus also die Vorstellungskraft.

Doch die Kenntnis der Bibel ist in "la chute“ an allen Ecken und Enden zu spüren, und das ist neu in diesem Spätwerk. Der Vorname des Protagonisten ist nach Johannes dem Täufer benannt, auch der Nachname Clamence erinnert an diesen als "vox clamantis in deserto“, als Stimme des Rufenden in der Wüste, wie sich der Täufer in Erfüllung der Prophezeiung des Propheten Jesaja bezeichnet hat (Joh 1,23; Jes 40,3). Noch am Schluss des Buches sieht sich der Protagonist "als falscher Prophet, der in der Wüste ruft und sich weigert, sie zu verlassen“.

Doppelter Fall

In Form eines Monologes - einem der brillantesten Texte, die er je schrieb - schildert Camus den Weg eines begabten jungen Anwalts, der viel Gutes tut, allerdings auch zu Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit neigt. Ist nicht superbia, Hochmut, die eigentliche Ursünde (Gen 3,5 "ihr werdet sein wie Gott“)? Der "Fall“ ereilt Clamence eines Abends in Paris, als er auf einer Seine-Brücke an einer jungen Frau vorbei geht, die über das Geländer gebeugt ins Wasser blickt. Schon am Ufer weitergehend, hört er das Aufklatschen eines Körpers im Wasser und Schreie. Nach kurzem Zögern und Gedanken wie "zu spät, zu weit weg“ entfernt er sich; er verständigt niemanden. Der doppelte Fall - der selbstmörderische Fall der jungen Frau in die Seine und der eigentliche "Sündenfall“ des nicht ins Wasser springenden Clamence ist der Wendepunkt. Langsam, aber unaufhaltsam, gepeinigt von einem zunehmend als verächtlich empfundenen Gelächter, verliert er sein Selbstgefühl. Der berufliche und moralische Abstieg endet in einer Spelunke im Hafenviertel von Amsterdam. Unumwunden stellt er fest, in der Hölle und zwar - er ist Kenner Dantes - im tiefsten Kreis der Hölle zu sein, der den Verrätern vorbehalten ist.

Schuld und Vergebung werden die Zentralthemen des Monologs. Die eigene Schuld projiziert Clamence auf alle Menschen. Gerechtigkeit gibt es nicht. Geniales Symbol dafür: Clamence hält in seiner Spelunke ein berühmtes Gemälde von Jan van Eyck "Die gerechten Richter“ versteckt, das tatsächlich 1934 aus der Kathedrale St. Bavo in Gent gestohlen wurde und bis heute nicht aufgetaucht ist. Allgegenwart der Schuld, Unmöglichkeit der Vergebung - und doch Sehnsucht danach. Das führt zur Sehnsucht nach Jesus von Nazaret, den Menschen, denn an die Auferstehung glaubt er nicht: "Mein Freund, der starb, ohne es zu wissen“. Clamence reflektiert über Jesus ausführlich - schade, dass in der "Kreuz und quer“-Diskussion über Camus am 29. Oktober davon nicht die Rede war. Er sinniert über Jesu Todesschrei am Kreuz, der ab dem dritten Evangelisten "zensuriert“ sei; er sinniert über den Bethlehemitischen Kindermord und Jesu Wissen darum: "Und verriet die Traurigkeit, die man in allem seinem Tun ahnt, nicht die unheilbare Schwermut dessen, der jede Nacht Rahels Stimme hörte, wie sie ihre Kleinen beweinte und jeden Trost zurückwies“ - ein Hinweis auf den Propheten Jeremia (31,15). Das wichtigste an der Religion, so Clamence, ist nicht, "Moral zu predigen und Gebote zu schleudern“, sondern den schuldbehafteten Menschen ihre Unschuld wieder zu geben - also zu vergeben. Er sieht die Aufgabe der Religion in typisch ironisierender Sprache als große "blanchissage“ - Weißwäscherei -, "was sie übrigens einmal gewesen ist, doch nur kurze Zeit, drei Jahre lang, und damals hieß sie nicht Religion.“ Es sind die drei Jahre des Wirkens Jesu.

Vergebung in einer Welt ohne Gott

Woher kann Vergebung in einer Welt ohne Gott kommen? Einmal spricht Clamence von der "heiligen Unschuld derer, die sich selbst vergeben“. Er hat sie nicht, obwohl sie vielleicht zu erringen wäre: Man müsste sich "für irgendjemand selbst vergessen, wenigstens ein einziges Mal“. Mehrmals tauchen in der Erzählung Tauben auf. Sie schweben über der Erde und möchten herabfahren. Aber da ist "kein Haupt, auf dem sie sich niederlassen könnten“. Die Anspielung an die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer und die Symbolik des Heiligen Geistes ist deutlich. Er, Clamence, hat eine andere Taufe gehabt. Der Schrei des ertrinkenden Mädchens verfolgt ihn überall, wo Ströme und Meere waren, "wo sich das bittere Wasser meiner Taufe fand.“ Noch einmal die verzweifelte Bitte: "O Mädchen, stürze dich nochmals ins Wasser, damit ich ein zweites Mal Gelegenheit habe, uns beide zu erretten“. Doch im gleichen Atemzug die Ablehnung - das Wasser ist so kalt. Es ist zu spät. Er bleibt in der Hölle, als deren Fürst er sich einmal wähnt.

Camus hat eine Gegenfigur zu Clamence geschaffen. Es ist der Ingenieur D’Arrast in der Novelle "La pierre qui pousse“, "Der treibende Stein“, besser zu übersetzen als "Der treibende Fels“, denn die Bibelstelle über Petrus als Fels (in der französischen Bibel "pierre“, Mt 16,18) wird schon in "la chute“ angesprochen. Ähnlich wie Clamence ist D’Arrast am Tod eines Menschen schuld. Er beginnt ein neues Leben in Brasilien, und kommt bei einer Prozession einem Mann zur Hilfe, der das Gelübde getan hatte, einen 50 kg schweren Stein in die Kirche zu tragen. D’Arrast nimmt dem zusammengebrochenen Mann den Stein ab und schleppt ihn unter großer Anstrengung nicht in die Kirche, sondern zurück in das Haus des Mannes und seiner Familie, das ihm neue Gemeinschaft, vielleicht auch Liebe bringen wird. Er hat offenbar die heilige Unschuld jener, die sich selbst vergeben. D’Arrast scheint wie eine Gegenfigur zu Clamence - aber auch zu Sisyphos: Denn er lässt den Stein nicht mehr hinunterrollen.

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