Frömmigkeitsstile
Am letzten Wochenende versammelten sich Jüdinnen und Juden aus ganz Europa in Amsterdam, um gemeinsam zu beten und voneinander zu lernen. Ganz unterschiedliche Kulturen, Frömmigkeitsstile und musikalische Traditionen trafen aufeinander. Die Agenden der Gottesdienste wurden von spirituell kundigen Rezepteuren mit ausgefahrenen geistlichen Geschmacksnerven wie ein Menü zusammengestellt.
In solchem Kontext kann man gut studieren, wie in jedem Land Europas der Prozess religiöser Innovation die Symbiose mit der jüdischen Tradition sucht. Ganz im Sinn des Rabbi Ahron aus Karlin, von dem der Spruch überliefert ist: "Wer nicht jeden Tag etwas erneuert, zeigt, dass er auch nichts Altes hat.“ Ausdrucksformen sind ständig im Fluss und müssen den Brückenschlag leisten zwischen dem Althergebrachten und dem Bleibenden auf der einen Seite und dem Schöpferischen auf der anderen. Trotzdem braucht eine Gemeinschaft auch Merkzeichen der Gemeinsamkeit. Darum würde jüdisches Gemeindegebet aufhören, jüdisch zu sein, wenn der Gottesdienst von morgen vollkommen anders wäre als der Gottesdienst von gestern oder von vor tausend Jahren. Es war deshalb schön zu sehen, wie das Konzert der Frömmigkeitsstile in intensive Erfahrung der Gemeinschaft mündet.
Die jüdische Liturgie konnte ihre Funktion als Traditionsspeicher und Katechismus behaupten. Melodien des 16. Jahrhunderts und israelische Rhythmen der Gegenwart haben sie zum Strahlen gebracht und deutlich werden lassen, wie vielfältig das Judentum zu jeder Zeit ist. Für diese Einheit in der Vielfalt hat Rabbi Levi im ersten Jahrtausend ein schönes Bild gefunden: "Gott erscheint für Israel wie ein Bild, auf dem überall viele Gesichter zu sehen sind. Tausende Menschen betrachten es, und es sieht jeden von ihnen an.“
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin
