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Mit Bocksprüngen kreuz und quer durch die Jahrhunderte

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Philosophen denken, aber werden sie auch gelesen? Andre Glucksmann genügt es nicht, Erklärungen für den Zustand der Welt zu finden. Er geht an die Grundfesten und beginnt daher bei sich selbst und mit einer poetischen Maxime: Mit einem radikalen Protest gegen sich selbst gewendet ist es möglich, „Feuer und Wasser zu vereinen, ohne daß das eine verdampft und das andere verlischt". Das praktische politische Gegenbild dieses Grundsatzes ist für Glucksmann der verstorbene französische Präsident Francois Mitterrand, der in seinem Leben eine ganze Reihe von Wendungen vollzogen hat: Er beendete seine Laufbahn, wie er sie, so Glucksmann, begonnen hat, als Komplize eines Völkermordes. Am Anfang Kollaborateur des Vichy-Re-gimes, deckte der Sozialist den französischen Eichmann Bousquet, und mit der Aufrüstung der Tutsi ermöglichte er den Völkermord in Ruanda.

Während für den führenden Kopf der „Nouveaux philosophes" Mitterrand bloß als Katalysator der Abgrenzung gut ist, nimmt er Maß an einer anderen Größe der französischen Geschichte: Charles de Gaulle.

Dies ist mehr als verwunderlich, denn als 68er hat Glucksmann noch in bezug auf de Gaulle gemeint: „Zehn Jahre sind genug". Was den wortgewaltigen Militär für den. Philosophen so interessant macht, ist seine realistische Grundeinstellung, die im Widerspruch zu vielen Politikern nach 1945 stand und zu einem Leitmotiv seiner Politik wurde: „Der Krieg ist nicht zu Ende."

Entgegen den euphorischen Einschätzungen nach dem Fall der Berliner Mauer, daß das Ende der Geschichte nahe sei und Frieden in die Hütten einziehe, werden wir täglich eines Schlechteren belehrt. Glucksmann begnügt sich nicht mit tagespolitischen Exkursen, sondern versucht, streitbar, poetisch, und brillant, eine Ordnung ins Chaos zu bringen. Die journalistisch aufbereitete Geschichte Mitterrands ist in diesem Zusammenhang eine Ausnahme, ebenso hart geht Glucksmann mit Fernand Braudel und der Historikerschule, der „Ecole des Annales" ins Gericht, denen er vorwirft, den Krieg bagatellisiert zu haben, wenn mit variierenden Theorien eine „Entreali-sierung des Konfliktes" betrieben werde. In Glucksmanns Verweislabyrinth befinden sich Mitterrand und Braudel in guter Gesellschaft, sie sind nur zwei unter vielen.

Denn dem streitbaren Philosophen sitzen die historischen Figuren und deren Aussagen und Theorien, von Napoleon, Plato, Seneca und Boethius über Clausewitz bis Hegel, locker wie den Cowboys der Colt, um in der flapsigen Sprache der Brutalität zu bleiben.

Manchmal regt sich bei diesen Bocksprüngen durch die Zeiten der Zweifel: Darf ein Philosoph so schreiben? Reitet hier nicht auch der Zeitgeist mit? Zweifel siria angebracht, doch hinter den blendenden Formulierungen verschwindet der Moralist nicht, geht es ihm doch darum, den „Erfindungsreichtum unserer Eliten in Sachen Heuchelei" bloßzustellen. Reispiele dafür hat der Bosnien-Konflikt zur Genüge geboten.

Die Fülle von regionalen Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges von Bosnien bis nach Ruanda, von Algerien bis Tschetschenien sind für Glucksmann keine Ausnahmen, keine Betriebsunfälle, sondern Ausdruck einer Wandlung vom totalen Krieg zu totalitären Kriegen, die auf „diktatorische Beherrschung eines begrenzten Gebietes" abzielen.

Die Zivilbevölkerung ist nicht mehr en passant betroffen, sondern systematisch in der „ethnischen Säuberung". Glucksmann läutet die Protestglocke mit Wut und seine Polemik richtet sich auch gegen die „Trostmaschinerie" und gegen die historischen Beispiele, die beweisen, „wie sehr das leidenschaftliche Bestreben zu trösten und der dringliche Wunsch, getröstet zu werden, blind machen können."

Gegen diese drohende Blindheit, diesen „Fernsehschlaf", kann nach seiner Ansicht nur ein Plädoyer für ein praktisch angewandtes Widerspruchsprinzip helfen.

KRIEG UM DEN FRIEDEN

Vhn Andre Glucksmann. Ubersetzung: Ursel Schäfer. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1996. 246 Seiten, geb., öS295,-

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