Um die Wette heideggerisiert

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Der Franzose und Jude Andre Glucksmann schlüpft in die deutsche Haut und fordert, das gemeinsame Widrige zu durchdenken.

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Der Franzose und Jude Andre Glucksmann schlüpft in die deutsche Haut und fordert, das gemeinsame Widrige zu durchdenken.

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Die geistigen Haltungen Frankreichs und Deutschlands gegenüber dem Problem des Bösen und dessen Wurzeln in unserer Geistesgeschichte durchforscht Andre Glucksmann: "Das Gute und das Böse - ein französisch-deutscher Briefwechsel". Das Problem ist alt, doch wurde es nie so ernst genommen wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute, findet Glucksmann, verleugne man es bereits wieder. Doch Hitler sei in jedem, auch in ihm, Glucksmann, selber: "Da ich Demokrat bin, muß ich mich kneifen, um ernsthaft sagen zu können: ,Hitler, das bin ich.' Alle meine guten Geister leugnen eine so masochistische Selbstanklage."

Und dennoch: "Euphorisch und manichäisch, je nachdem, projiziert der Demokrat Satan nach außen, er erforscht nicht sokratisch, was er selbst vielleicht dazu beigetragen hat, er verdrängt seine Mitschuld am Elend der Welt." Aber Glucksmann ist ja nicht nur Demokrat, er ist auch Jude: "Hier wird das Problem pikant. Wie kann man im gleichen Atemzuge behaupten: ,Ich bin Hitler'?" Und doch. Um den Geist des Bösen abzuwehren, gelte es, sich der Tatsache bewußt zu sein, daß man das Böse in sich selber schlummern habe und darüber hinaus zu begreifen, welchen Weg wir gegangen sind, um dem Bösen in uns zum Durchbruch zu verhelfen.

Auschwitz wäre in dieser Sicht der Auswuchs einer tieferliegenden Neigung des Menschen, und vielleicht besser als sonstwo ließe sich das am jahrhundertealten Spannungsverhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ausloten. Um seine These zu unterstreichen, nimmt Glucksmann in einem Dutzend von fiktiven Briefen jeweils die Argumentation der einen und der anderen Seite als eigene Haltung zum Vorwand.

Aus deutscher und als Antwort aus französischer Sicht argumentiert Glücksmann also. Doch sollte es heute nicht schlicht heißen - aus der Sicht des heutigen Europäers französischer oder deutscher Nation? Glucksmann findet: Es fehlten noch die geistigen Beziehungen zwischen den beiden Kulturen und damit auch die Aufarbeitung der gegenseitigen Haltungen in der Perspektive des vereinten Europa. Einige hundert Jahre lang, bis zum Beginn unseres Jahrhunderts, herrschte Zwiesprache der großen Geister der beiden Nationen, mit dem Beginn dieses Jahrhunderts wuchs das Mißtrauen, "nichts von dem, was auf dem einen Rheinufer geschrieben, geflüstert wurde, blieb auf dem anderen unbemerkt. Man horchte sich ab, belauerte, interpretierte einander." Im Verhältnis zu heute herrschten allerdings in der Feindschaft "weitaus engere Bindungen als eine zwar überall gefeierte, doch so wenig durchdachte Versöhnung."

Möglicherweise überschätzt hier Glucksmann etwas die Rolle der Intellektuellen. Sicher gab es Philosophen und Künstler, die ihrer Zeit vorauseilten, Glucksmann zitiert unter anderen Racine und Kant. Doch die Masse der Intellektuellen hinkte auch in der Vergangenheit stets der Entwicklung nach. Zur Zeit sei es so, meint der Autor, daß sich seit dem Fall der Mauer in Deutschland die patriotischen Gefühle weitgehend verloren hätten, jeder führe sein eigenes kleines Leben und kümmere sich nicht um den Nachbarn jenseits der Grenze. Aber bedeutet das nicht einfach, daß der Deutsche den Nachbarn im anderen Land so sieht, wie er seine unmittelbaren Nachbarn immer schon gesehen hat, nämlich kaum, oder gerade noch als blöden Preußen oder doofen Bayern? Oder etwa der Österreicher, der schon lange keine Katzelmacher mehr sieht, wenn er nach Italien fährt, sondern eine Mischung aus gefährlichen Taschendieben und sympathischen Gastgebern. Daß der Bürger Europas die Angehörigen anderer europäischer Nationen so vereinfacht sieht - ist dies nicht auch ein positives Zeichen der Integration von unten? Die Interpretation durch die Intellektuellen wird schon noch kommen.

Glucksmann ist bewußt und mit Nachdruck kein Optimist. Kann man nach Auschwitz überhaupt noch Optimist sein? Er blickt von beiden Seiten auf die Denker, obwohl ihr Einfluß stets "in höchstem Maße beschränkt" war und findet unerwartete Wurzeln des Bösen in der glückseligen Haltung der Intellektuellen. Der Franzose sehe das etwa so: "Der deutsche philosophische Optimismus manifestiert die Grundeuphorie, die drei Jahrhunderte lang die europäische Zivilisation umtreibt." Das Böse habe sich mit der französischen Aufklärung in der Vergangenheit verloren. Der Klassiker Racine zeige es zwar in seinem "Britannicus" in der Gestalt des Nero auf, das Böse, das "noch über die Grausamkeit hinausgeht". Wer aber will heute noch daran glauben? "Die Klassiker hätten nie die Schamlosigkeit besessen, das ,Ende der Ideologien' zu verkünden."

Auf der deutschen Seite sah und sehe man die Zukunft als Verheißung, meint Glucksmann aus deutscher Perspektive. Von Leibniz an seien wir Deutschen schrankenlose Optimisten und bei Habermas komme der zukunftsgläubige Geist wieder zum Durchbruch, verflüchtige sich der böse Traum dieses Jahrhunderts. Doch das heute wieder "vorgetäuschte Verschwinden des Bösen" sei nur "eine zusätzliche Bösartigkeit des Bösen ... das immer wiederholte Geheimnis, das das deutsche Denken ununterbrochen in allen Nischen der menschlichen Situation zelebriert. Das Böse und das Negative werden zurückgedrängt, begrenzt, zusammengedrückt - verschwindende Größen" .

Auch wenn Europa, meint Glucksmann, nun wieder Franzose, sich 300 Jahre an erbaulichen deutschen Hymnen berauschte, "die den Sieg des Tages über die Nacht feiern", so besitzt Ihr doch nicht, "liebe deutsche Freunde, die Exklusivrechte der rosigen und kitschigen Träume. Allerdings seid Ihr im ganzen Kontinent dessen unbestreitbare philosophische Fürsprecher. Diese Originalität verleitet die Prediger aller Schattierungen und Länder dazu, ihre letzten Argumente bei Euch zu suchen." Madame de Stae¬l war schon bekannt für diese Einstellung, ebenso der französische Sozialistenführer Jaures, und gleich nach dem letzten Krieg kamen Jean-Paul Sartre und seine Freunde zum "Nazi Heidegger von 1933", um sich geistig zu laben. Schlimmer noch, mit ihrer kritiklosen Verherrlichung einer kriegerischen Vergangenheit heiderggerisierten die Franzosen um die Wette, "ohne je auch nur eine lumpige Zeile des Meisters gelesen zu haben". Heute werde wieder gebannt auf das deutsche "vernünftige Wirtschaftsmodell" geblickt, in einem Land, das zum "Hauptquartier des weltweiten Protestes" geworden sei und trotzdem "überall Erster ist. Es fragt sich, warum."

Es sei wohl immer wieder die Flucht vor dem Bösen, das zur Vorstellung vom Guten als erreichbarem Dauerzustand dränge. Doch "das stets begehrte, immer umstrittene souveräne Gute hat lediglich unsere blutigsten Querelen angefacht". Glucksmann hält statt dessen eine "Gemeinschaft der Weigerungen, die sich über das Unannehmbare zu verständigen hat", für unumgänglich: "Gemeinsam die Widrigkeiten denken zu lernen setzt ein eher kulturelles als ideologisches Europa voraus, das nicht für das Beste, sondern gegen das Schlimmste geeinigt ist."

DAS GUTE UND DAS BÖSE Ein französisch-deutscher Briefwechsel Von Andre Glucksmann Claassen Verlag, Hildesheim 1998 412 Seiten, geb. öS 350,

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