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Abkehr von Machiavelli

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Immer wieder wurde bemerkt, daß Frankreich kein fruchtbarer Boden für den Marxismus sei. Wenn jetzt die KPF-Führung gestärkt aus der innerparteilichen Debatte hervorgeht, die 1978 so heftig von EUeinstein auf der einen, von Alt-husser auf der anderen Seite geführt wurde, zeigt sich dies wieder einmal. Die KP ist nicht ein Forum inteüek-tueUer Diskussion, sondern der Apparat einer straffen Organisation.

Die inteüektueUe Diskussion in Paris hat sich im Grunde längst von Themen des Marxismus wegentwik-kelt, und man erinnert sich, daß der Mai 1968 mit seiner Parole „Phantasie an die Macht“ aües andere als die Erhebung künftiger Funktionäre war. In Paris haben die linken Studenten sehr schneU gemerkt, daß kerne gemeinsamen Interessen sie mit Funktionärskadern verbinden.

So kam hier auch mit der als „neue Phüosophen“ bekanntgewordenen Nicht-Gruppe zu Bewußtsein, daß der ideologische Jargon der Linken die Wirkhchkeit verzerrt

Jede Zeit muß sich von Schematisierungen befreien. Heute wendet sich Befreiung gegen die Sprachdiktatur einer Funktionärsclique internationaler Reichweite, die das Vokabular der europäischen Aufklärung für sich in Anspruch nimmt.

Das Ende der europäischen Aufklärung in KP-Programmen ist ebenso ruhmlos wie peinlich. Es wül nicht so leicht in den Kopf, daß gerade die großen Ideen, auf die Europa in der Moderne so stolz war - Freiheit, Gleichheit - zum Programm einer weltweit intendierten Unterdrük-kung geworden sind. Dieser Funktionswandel hat so viele Unsicherheiten mit sich gebracht, daß jetzt die Gefahr neuer Irrationalismen nicht von der Hand zu weisen ist. Unsere Gefühle haben keine Sprache, weü Unterdrücker und Unterdrückte die gleiche Sprache sprechen. Die Sprache hat sich als unfähig erwiesen, die Unterdrückung zu beseitigen. Mit der lauthals angekündigten Veränderung der Verhältnisse ist es nichts.

In dieser Situation entdecken wir unsere religiös-kulturelle Situation neu. Wir lernen einsehen, daß hier Dimensionen sind, die dem reduk-tionistischen Vokabular, der Aufklärung widerstehen. Aber schon stehen wir in einem neuen Düemma: Die gestern gegen den Schah waren, werden seines Nachfolgers nicht recht froh!

Michel Foucault, einer der Sprecher des modernen Paris, hat sich korrigieren müssen. Man wird ihm zustimmen, wenn er angesichts der iranischen Revolution daran erinnerte, daß es politische Spiritualität gibt - ein Phänomen, das wir seit der Neuzeit verdrängt haben. Nun sind die re-ligiös-kultureUen Traditionen sehr verschieden. Schütisch-mystischer Fanatismus in einer Tradition des Heüigen Krieges, die hier auf Erden eindeutig zwischen Söhnen des Lichts und der Finsternis zu unterscheiden weiß, ist nur eine Mögüch-keit.

Jesus sprach von dem Feld, auf dem der gute Weizen zusammen mit dem Unkraut wächst bis zu dem Tag, der nicht in unserer Verfügung steht Es ist an der Zeit neu sehen zu lernen, welches Maß an Freiheit die Botschaft des Evangeliums bringt: Sie befreit davon, daß wir einander richten, daß wir im Namen Gottes einem anderen das Leben nehmen dürfen.

Wer die Texte der europäischen Religionskritik des 18. und 19. Jahrhunderts best, fühlt sich im Blick auf so vieles, was jetzt unter dem Zeichen des neuen religiösen Selbstbewußtseins in Außereuropa vor sich geht, bestätigt. Seltener schon fäUt auf, daß gerade die religiöse Haltung, die der Boden dieser Kritik war - das Christentum -, entscheidende Momente enthält, die diese Kritik nicht trüft Und so ist es möglich geworden, daß der Papst in ein Land reist, das Staats offiziell jener abgestandenen Aufklärungsideologie des Marxismus zugerechnet wird.

Nach dem Tod von Maurice Clavel, der so viele auf dem Weg weg von Gegenwartsstereotypien aus spiritueüer Verantwortung ermutigte, werden die Jüngeren ihren Weg selbst gehen müssen Andr6 Glucksmann hat der eben erschienenen zweiten Auflage von, J_,e Discours de la guerre“ („Der Diskurs des Krieges“, bei Bernard

Grasset, Paris) einen Dialog mit dem Titel „Europe 2000“ zwischen dem Autor, einem überlebenden Exeuro-päer und Mahmoud aus der Dritten Welt vorangestellt

Die Rekonstruktion der Geistesgeschichte als Kriegsgeschichte, die Napoleon und Hegel in einem Atemzug nennt und sich von der als Opium des Volkes verstandenen Kriegsreligion absetzt, ohne einem larmoyan-ten Pazifismus das Wort zu reden, steht zur Diskussion. Lernen wir erst auf Trümmern? Haben wir noch nicht Trümmerfelder genug?

Kein Weg führt in eine Heimat, solange die Erfahrung Israels lebendig ist: Bernard-Henri Levy erinnert in seinem neuen Buch „Le testament de Dieu“ („Das Testament Gottes“, Grasset) daran, daß die absolute Fremdheit die entscheidende Erfahrung des Israeliten ist Sie ist heute zur weltweiten Erfahrung geworden.

Flüchtlingsströme ziehen durch die Länder, Lager werden errichtet und eingerissen. Es hat den Anschein, daß Gott im Zelt der Ausgestoßenen unter uns ist. Die Bibel wird das Buch des Widerstandes gegen Unterdrückung. Man versteht dies in einer Zeit weltweiter Unterdrückung im Namen der europäischen Aufklärung.

Die Rückbesinnung auf die Wahrheit unserer Kultur ist der einzige Weg, der aus der gegenwärtigen Konfusion hilft. Das heißt: die Abkehr vom Machiavellismus der Neuzeit, in der die Mittel zählen, nicht Wahrheit gilt. Paris, die Hauptstadt der Revolution, erweist sich als der Ort, an dem die Grenzen der Revolution besonders deutlich werden.

Der Autor ist Universitätslektor für Philosophie an der Universität Wien.

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