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SO SAH ICH EGON HILBERT

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Ich war gerade, 1946, aus der Gefangenschaft entlassen, in die Bundestheaterverwaltung des Bundesministeriums für Unterricht eingestellt worden, als ich Egon Hilbert kennenlernte. Aus Salzburg, wo er sich nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau aufgehalten hatte, war er nach Wien geeilt, um seinen Posten als Leiter der Bundestheaterverwaltung anzutreten. Viel Freude konnte damals ein Mann mit dieser Aufgabe wirklich nicht haben. Das Burgtheater zur Hälfte, die Staatsoper zur Gänze zerstört, kein Ensemble, keine Kostüme oder Kulissen, denn auch diese waren vernichtet worden: so fand Hilbert die Bundestheater vor. Davon abgesehen mußte er über Bretter, die über einen Bombenkrater gelegt waren, sein Büro in der Reitschulgasse aufsuchen. Jeder hätte wahrscheinlich für diesen fragwürdigen Posten gedankt, und ich selbst, damals noch junger Beamter, fragte mich allen Ernstes, was man in solch einer Situation überhaupt anfangen sollte. Nicht so Hilbert. Die sich um ihn auftürmenden Schwierigkeiten beachtete er einfach nicht, und schon nach kurzer Zeit merkten wir alle, welcher Motor mit Hilbert in die alten Büros der Theaterverwaltung eingezogen war.

Der damals noch als Konsulent und Berater Hilberts anwesende ehemalige Leiter der Bundestheaterverwaltung, Sektionschef a. D. Dr. Eckmann — ein Mann, dem ich alles verdanke, was ich heute von und über das Theater weiß —, nannte Hilbert eine Lokomotive, die unentwegt mit höchster Geschwindigkeit dahinbrause. Sein langjähriger Mitarbeiter und späterer Stellvertreter Hilberts, Ministerialrat Dr. Kosak, ergänzte diesen Ausspruch mit dem Zusatz, daß man aus diesem Expreßzug nicht mehr abspringen könne, ohne sich garantiert zu erschlagen. So schweißte Hilbert ein Team zusammen! Wie es damals möglich war, daß Hilbert ein Ensemble zusammenbrachte, die Wiener Staatsoper kurzerhand in das bereits vor Jahren von der Baupolizei als baufällig bezeichnete Theater an der Wien verlegte, war wirklich einmalig. Hilbert interessierte die Baufälligkeit in keiner Weise. „Schließlich ist das Haus sicherlich nicht in allen Teilen baufällig, und die notwendigsten Arbeiten können ja in den Ferien gemacht werden“, kommentierte er die besorgten Einwände Kosaks. Das Burgtheater, damals im Variete- Gebäude des Ronacher beheimatet, war begreiflicherweise über seine Lokalität nicht begeistert. Man kann sich heute auch kaum vorstellen, daß die Mimen ,,des besten deutschen Theaters“, welchen Titel das Burgtheater 1932 mit seinem „Torquato Tasso“ in Weimar errungen hatte, in diesem ehemaligen Variete arbeiten konnten. Sie taten es, weil sie von der Dynamik und dem Schwung Hilberts angesteckt waren.

Eine Zeiteinteilung gab es für Hilbert nicht, aber auch nicht für seine Mitarbeiter. Was das heißt, bekam ich als sein vertrauter Sekretär als erster zu spüren. Ich wurde überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit eingesetzt, wo Not am Mann war — und wo war keine Not? Ob es galt, Medikamente für seine damals schwerkranke Frau zu besorgen, einen Sänger ohne Visum über die Demarkationslinie zu lotsen, eine Wohnung oder ein Untermietzimmer zu besorgen, einen Bezugsschein für einen Lastkraftwagen zu beschaffen, von den Pässen und Visas ganz zu schweigen; immer hatte ich das Vergnügen, eingesetzt zu werden. Daneben aber sollte ich auch noah Akten bearbeiten. Hilberts Stellvertreter, mein lieber Mentor Dr. Kosak, gab den Kampf um meine Arbeitskraft bald auf und überließ mich Hilbert und meinem Schicksal. Nie werde ich die berüchtigten Opernsitzungen vergessen, die er meist zwischen 12 und 1 Uhr nachts ansetzte, und immer werde ich mich seines Staunens erinnern, wenn ich am nächsten Tag dann nicht wie er um 7 Uhr früh bereits im Dienst war. Ja, es war ein täglicher und intensiver Kampf, der für Hilbert zeitlich morgens begann und spät in der Nacht endete, jahraus, jahrein. In einer solchen Stellung lernte man einen Menschen besser kennen als sonst, und da ich außerdem das Privileg besaß, zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet zu Hilbert zu kommen, konnte ich den Menschen Hilbert studieren.

Egon Hilbert, 1899 in Berlin (und nicht in Wien) geboren, hatte eher ungern Jus studiert. Schon seit eh und je zog es ihn zu den schönen Künsten hin. Es war vielleicht für ihn ein Glück, daß er nach seiner Promotion als sogenannter „Spektakelreferent“ bei der Wiener Polizei tätig war. Es sind dies jene Polizeibeamte, die täglich im Theater für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgten und dieses Geschäft auch heute noch verrichten. Wenn Hilbert schon während seiner Jugendzeit Stammgast im Stehparterre der Oper war, so vervollständigte er seine Opernkenntnisse in geradezu unvollstellbarer Weise.

Von diesem Posten ging Hilbert in den schweren Jahren Österreichs als Presseattache nach Prag und verfaßte noch zu einem Zeitpunkt leidenschaftliche Artikel für Österreich und gegen das nationalsozialistische Regime, als Österreich bereits aufgehört hatte zu bestehen. Entgegen dem Rat vieler Freunde folgte er dem eines falschen Freundes und kehrte nach Wien zurück. Natürlich wurde er sofort verhaftet und nach Dachau eingeliefert, wo er sieben Jahre bleiben sollte. Dort lernte Hilbert die späteren Minister Figl, Hurdes und noch viele andere kennen. Daß beispielsweise Figl lebend aus Dachau wiederkehren konnte, verdankte er Hilbert, wie es mir Figl selbst erzählte. Als das „Tausendjährige Reich“ langsam zu zerbröckeln begann, machte man sich unter den Österreichern im Lager Gedanken, wer welche Stellung in der neuzuerrichtenden Heimat bekleiden solle. Hilbert erbat sich die Leitung der Bundestheaterverwaltung, weil seiner Meinung nach Österreich nur auf dem Gebiet der Musik und des Theaters der Welt noch immer etwas bieten konnte. Man sagte ihm den Posten zu, und so kam Hilbert über das Salzburger Landestheater, das er immerhin ein Jahr lang leitete und wo er gleichzeitig versuchte, die Salzburger Festspiele wieder ins Leben zu rufen, wie bereits erwähnt, wieder nach Wien.

Es spricht für den Idealismus dieses Menschen, daß er bereits 1945 an Salzburger Festspiele überhaupt dachte, wo nicht einmal das tägliche Brot vorhanden war. Aber so war Hilbert. Selbst völlig genügsam, nährte er sich auch in den ersten Nachkriegsjahren größtenteils von Nüssen und Milch, trank keinen Alkohol und war begeisterter Nichtraucher. Für ihn gab es nur zwei Dinge auf der Welt: sein Theater — insbesondere die Oper — und Österreich. Seine fanatische Liebe zu diesem Land artete zwangsweise in groteske Handlungen aus; so zum Beispiel wollte er nicht, daß in seinem Paß als Geburtsort Berlin stand — weswegen er einfach Wien angab. So scheint es auch bis zu seinem Tode geblieben zu sein. Nun würde man vielleicht glauben, daß Hilbert von Deutschenhaß erfüllt gewesen sei, zumal er eigentlich keinen besonderen Grund gehabt hätte, für die Deutschen besondere Sympathien zu empfinden, denn schließlich war er ja sieben Jahre im Konzentrationslager gewesen. Aber das hatte Hilbert vergessen. Er bemühte sich um jeden Künstler, der seiner Ansicht nach für ihn von Bedeutung sein konnte und zog fast alle deutschen Schauspieler und Sänger nach Wien.

Als besonderes Lockmittel benützte er das Versprechen, ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft zu verschaffen und bot ihnen so die Möglichkeit, aus dem damals hermetisch abgeschlossenen Deutschland wieder in die Welt zu gehen. Er brachte mit seinen Staatsbürgerschaftsanträgen den damaligen Unterrichtsminister Dr. Hurdes oft zur Verzweiflung, denn — bequem war Hilbert weiß Gott nicht, weder als Chef (davon konnte ich ein Lied singen) noch als Untergebener. Etwas Unmögliches gab es für Hilbert nicht, sondern höchstens Schwierigkeiten, die einmal größer und einmal kleiner waren. Mit seinem Arbeitstempo und seiner Durchschlagskraft, seiner Kenntnis fast aller damaligen Persönlichkeiten, gelang es Hilbert, aus den Trümmern einer verzweifelten Stadt, in der es kaum etwas zu essen, fast nichts zu heizen gab und die meist auch kein Licht hatte, die herrlichsten Aufführungen im Theater an der Wien herauszubringen. Ich glaube wohl sagen zu können, daß das damalige Ensemble der Wiener Staatsoper wohl das beste gewesen sein dürfte, das es in Europa, vielleicht sogar auf der ganzen Welt gegeben hat. Denn alles riß sich darum, an der Wiener Staatsoper zu singen, im Kreise der bedeutendsten Künstler.

Ich erinnere mich an die berühmte Aida-Premiere 1947 im Theater an der Wien. Wien lag im Dunkel, und überall herrschte Kälte. Die Straßenbahnen standen. Am Abend erstrahlte aber das Theater an der Wien in einem Meer von Lichtern und erwartete die halberfroren hereintaumelnden Besucher mit wohliger Wärme. Wie hatte Hilbert das zustande gebracht? Als er hörte, daß es keine Kohlen gäbe, hatte er sich zeitlich am Morgen in das Grandhotel zum russischen Stadtkommandanten begeben, ihn wecken lassen und ihm mitgeteilt, die Amerikaner hätten ihm für die Premiere der „Aida“ eine Tonne Kohle gegeben, was aber zuwenig sei. Der Russe, schlaftrunken, erklärte erbittert, daß die russische Besatzungsmacht ihm selbstverständlich zwei Tonnen Kohle geben würde. Hilbert dankte und zog ab, um sich zum amerikanischen Hochkommissar zu begeben und diesem mitzuteilen, daß er von den Russen zwei Tonnen Kohle bekommen habe — worauf der Amerikaner Hilbert drei Tonnen zusagte.

Damit hatte Hilbert den Abend gerettet, denn Bürgermeister Körner mußte ihm — trotz der bestehenden Stromschwierigkeiten — das erforderliche Licht für den Abend geben, da ja die Besatzungsmächte für die Beheizung gesorgt hatten. —• Dies ist nur eine der vielen Episoden, die ich miterleben konnte. Wie oft Hilbert Künstler im Kofferraum eines Autos über die Demarkationslinie an der Enns schmuggelte, kann ich heute nicht mehr sagen. Es waren aber etliche darunter, die am gleichen Abend dann im Burgtheater auftraten, und jene Besatzungsoffiziere, die ihr Placet zur Einreise des betreffenden Künstlers nicht gegeben hatten, klatschten begeistert Beifall, ohne sich Gedanken zu machen, wie es denn überhaupt möglich war, daß dieser Künstler auftritt. Ein Künstlerin müßte Hilbert besonders dankbar sein: die damals politisch schwer angeschlagene Elisabeth Schwarzkopf. Was Hilbert damals auf führte, um diese Künstlerin wieder auf die Bühne zu bringen, schien fast den Bogen zu überspannen, denn eine Besatzungsmacht forderte energisch die Verhaftung Hilberts.

Es war eine sonderbare Zeit, und wenn einer sie meisterte, so war es Hilbert. Schon damals aber merkte ich, daß der Mensch Hilbert langsam den Boden der Realität verließ. Er hatte eben nirgends einen ihm wohlgesinnten und kongenialen Partner, der ihm von Zeit zu Zeit begreiflich machte, daß es irgendwo auch Grenzen der Dynamik gab. Nichts gab es, was Hilbert nicht selber machen wollte. Er war der Initiator für den Wiederaufbau der Wiener Staatsoper und des Burgtheaters — und trotz verschiedentlicher Widerstände ging der Wiederaufbau tatsächlich vor sich. Sein unvorstellbarer Fanatismus und das Verlangen, daß seine Mitarbeiter, bis herunter zu den Bühnenarbeitern, auf ihr Eigenleben praktisch verzichten sollten, mußte ihn in Widerspruch zur Gewerkschaft bringen. Bedauerlicherweise starb 1949 das ruhend Element, Hilberts Stellvertreter Dr. Kosak, ganz plötzlich. Mir oblag es, über Nacht praktisch die finanzielle Basis der Staatstheater zu erstellen. Hier brachen zwangsweise Meinungsverschiedenheiten aus, und ich schied aus der Bundestheaterverwaltung, natürlicherweise mit einem Krach. — Kurze Zeit darauf brach ein Streik der Bühnenarbeiter aus, was in der Geschichte der Bundestheater erstmalig war.

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Ich trage Hilbert nicht das geringste nach, denn für mich war und ist er einer jener einmaligen Gestalten, die man mit normalen Maßen überhaupt nicht messen kann. Aus diesem Grunde gebe ich gerne zu, daß es schwer ist, mit Fanatikern zu arbeiten. Daß Hilbert für mich gewisse Sympathien hegte, bewies er mit der Tatsache, daß keiner meiner Nachfolger bei ihm jene Vertrauensstellung einnahm, die ich eingenommen hatte. Es war für Hilbert eine schlechte Zeit damals, zu Beginn der fünfziger Jahre, denn kurze Zeit darauf brachte ein völlig sinnloses Mißverständnis zwischen ihm und dem damaligen Unterrichtsminister und heutigen Rektor der Universität Innsbruck, Dr. Kolb, Hilbert so in Rage, daß er als Leiter der Bundestheaterverwaltung zurücktrat — wohl in der Hoffnung, man würde seine Demission nicht annehmen. Diese Hoffnung ging aber nicht in Erfüllung, und so ging Hilbert zunächst eine Zeitlang spazieren und dann als Leiter des österreichischen Kulturinstitutes nach Rom. Der Dank Österreichs ist immer eine zweifelhafte Angelegenheit. Dies bekam auch Hilbert zu spüren. Als 1955 die beiden Häuser am Ring eröffnet wurden, wurde Hilbert nicht einmal zu ihrer Eröffnung eingeladen.

Genau an seinem 60. Geburtstag ließ sich Hilbert pensionieren und kam nach Wien, um die Leitung der Wiener Festwochen zu übernehmen. Kaum anwesend, stöhnten seine Vorgesetzten über ihn und seine Geldgebarung. Denn wenn es sich seiner Meinung nach um etwas Hervorragendes handelte, war ihm kein Geld zuviel. Seiner damaligen Leitung verdanken wir „Lulu“ von Alban Berg, die von Wien einen Siegeszug über die Welt antrat. — Kurze Zeit später holte Herbert von Karajan Hilbert an die Staatsoper als Co-Direktor, um sich mit ihm — wie hätte es auch anders sein können — nach kurzer Zeit zu Überwerfen. Karajan ging und Hilbert blieb. Seit 1964 war nun Hilbert, der viel von seiner alten Dynamik eingebüßt hatte und inzwischen schwer krank geworden war, jenen persönlichen Angriffen ausgesetzt, in denen die Wiener ja Meister sind. Hilbert, früher nicht feige, hätte seinerzeit bestimmt auf diese Anwürfe geantwortet — diesmal aber kapselte er sich immer mehr ein und antwortete überhaupt nicht. Überhaupt fehlte es ihm an Kontakten, zum Beispiel zur Presse, was seine Direktionstätigkeit sehr erschwert hat. Trotzdem gelangen ihm Leistungen, die an dieser Stelle, zuletzt in zwei Leitartikeln der „Furche“ vom 2. und 16. Dezember ausführlich gewürdigt wurden. Aber seine Feinde waren unerbittlich, und schließlich kam es so weit, daß sogar seine engsten Freunde ihm rieten, zurückzutreten. In dem Bestreben, andere nicht zu Schaden kommen zu lassen, zeigte sich Hilbert noch einmal als der alte Löwe. Schließlich aber gab er nach, und einen Tag, nachdem er die Zustimmung zu seiner Beurlaubung gegeben hatte, brach sein müdes Herz. Seine Uhr war abgelaufen.

Zusammenfassend möchte ich Egon Hilbert als Menschen bezeichnen, der durch seine unbändige Liebe für sein Werk und für seine Heimat unbequem, lästig, ja geradezu fürchterlich für viele Menschen gewesen war. Denken wir aber an das, was man Hilbert danken muß, dann müssen wir auf die Wiener Staatsoper und das Burgtheater, auf die glanzvolle Opernzeit der Jahre 1946 bis 1949 und auf die Tatsache hinweisen, daß Hilberts „Wozzeck“- und „Lulu“-Auf- führungen den Namen Alban Bergs in die ganze Welt getragen haben. — Hilbert ist in den Sielen gestorben, wie er es sich immer gewünscht hat, und daß er keinen Dank ernten würde für all das, wofür er sein Leben hingab, darüber war er sich schon seit längerem im klaren. Ein Urteil über diesen Menschen zu fällen, steht mir, der ihn freilich glaubt, sehr gut gekannt zu haben, nicht zu. Eine spätere Zeit wird ihr Urteil über ihn fällen müssen. Jetzt soll dieser ruhelose Enthusiast seine Ruhe genießen, die er zeitlebens nie gekannt hat. Vielleicht aber sollten wir uns besinnen, daß eine Zeit wie die heutige eben auch solche Menschen braucht. Gar so viele haben wir nicht. Ihnen aber zu Lebzeiten Fallstricke zu legen und gegen sie Intrigen zu spinnen ist genauso unwürdig, wie nach ihrem Tode ihnen Lobeshymnen zu singen.

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