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Schlepperorganisationen haben das belgische Ostende als Sprungbrett nach England entdeckt. Für die meisten "Illegalen“ endet die Reise hier.

Elektrozäune lügen nicht. Schon gar nicht, wenn sie in sieben engen Reihen gespannt sind, die sich über dreihundert Meter Länge die Böschung der Brücke hinunter ziehen. Unten fahren die LKW vorbei auf die Fähre. Manche halten hier, wenn sie früh dran sind, noch einmal an. Die Fahrer dösen dann ein wenig, früher kontrollierten sie, ob sich nicht jemand von der Brücke heruntergelassen und zwischen Kabine und Ladefläche versteckt hatte. Heute ist das nicht mehr nötig. Wer sollte das schaffen, mit siebenfachem Elektrozaun? Vor wenigen Monaten erst wurde er angebracht. Ein deutliches Zeichen. Ostende steht auf der Karte der klandestinen Migration.

Heimlich auf, in oder unter einen LKW und auf diese Weise an Bord gelangen: darin liegt der Reiz, den das alte Seebad an der vollbetonierten belgischen Küste auf junge Transitmigranten ausübt. Der Sommer ist vorbei, schon lassen die ersten Cafés ihre Läden dicht. Die Transitmigranten aber, die sich in England leichten Zugang zu (Schwarz-)arbeit und wenig Kontrollen versprechen, haben mehr denn je Saison. Nach Jahren, in denen sich das Geschehen vor allem in französischen Häfen abpielte, ist Ostende zum beliebtesten Absprungort geworden.

Gründe dafür gibt es mehrere. Zum Beispiel dieses Stück Papier, dass Ahmed in der Hand hält. Der Ägypter bekam es am Vortag von einem der Polizisten, die in seinem Versteck im Hafen eine Razzia durchführten. "Aufenthalt ohne gültige Papiere“ steht darauf. Die Konsequenz: "Befehl das Grundgebiet zu verlassen“. Es folgt eine Auflistung aller EU- Staaten, denn auch hier ist Ahmed nicht mehr willkommen. Offiziell, denn eigentlich wären die belgischen Behörden schon zufrieden, wenn er sich ungesehen davon machte. So ist das mit Transitmigranten.

Eine Nacht in Gewahrsam, ein Ausweisungsbescheid. Danach ziehen Ahmed und die anderen ihrer Wege. Die Gefängnisse in Belgien sind überfüllt, die geschlossenen Abschiebezentren ebenso. In Frankreich hätte er es mit Behörden zu tun, die alles daran setzen, die Kanalüberquerungen von Calais und Dunkerque zu beenden, systematisch noch die notdürftigsten Behausungen zerstören, Schlafsäcke konfiszieren und gewohnheitsmäßig Tränengas versprühen. Letztes Jahr gingen in den Straßen von Calais Geschichten um. In Belgien, hieß es, gebe es einen Hafen, von dem aus man leichter nach England komme. Ostende.

Polizei-Erlebnisse

Auch hier hat Ahmed in den letzten fünf Monaten einiges erlebt. Essen und Medikamente nahmen die Polizisten seinen Freunden ab, sie zertraten ihre Mobiltelefone und manchmal, wenn die Medien über die Diebstähle der "Illegalen“ schrieben und man um den Strandtourismus fürchtete, saß der Schlagstock locker. Und nicht nur der. Ahmed ist nicht der Einzige, der schon Bekanntschaft mit Elektroschocks aus einem Beamtentaser machte. Doch der Grad der Repression ist ein anderer. Zudem gibt es vor der Fähre nur zwei Kontrollen, statt wie in Calais drei. Die Route über Ostende wurde populär.

Ein Park als Zuflucht

Man merkte das schon zu der Zeit, als Ahmed, dem die Revolution in Ägypten seinen Wunsch nach "ein bisschen mehr Geld“ nicht erfüllen konnte, Alexandria den Rücken kehrte. "Illegale auf den Gleisen“, hieß es im Winter mehrmals in belgischen Zeitungen. Nur mit erheblicher Verspätung konnten die Züge in den Bahnhof von Ostende einfahren, weil Transitmigranten sich über das halbherzig gesicherte Eisenbahngelände Zugang zum Hafen verschafften.

Im Frühjahr kam Ahmed an, nach einem Flug nach Istanbul und einer Odyssee durch die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich. Zu dieser Zeit wurde die Zaunfront des Bahngeländes mit Natodraht überzogen. Doch die besondere Geografie Ostendes blieb. Nah beieinander liegen Stadt, Hafen und der Kopfbahnhof, dessen verlassene Schuppen im Winter Unterschlupf bieten, und den nur eine Straße vom "Wäldchen“ trennt. Dieser Park, jenseits gepflegter Seeanlagen mit reichlich Unterholz ausgestattet, ist seit jeher der Rückzugsraum der Transitmigranten.

Ahmed gehörte zu den ersten Ägyptern hier. Inzwischen können sie und die Tunesier zahlenmäßig mit den Algeriern mithalten, die seit Jahren von Ostende aus ihr Glück probieren. Im Gegensatz zu Frankreich hat Belgien kein Rücknahmeabkommen mit Algier und kann somit nicht einfach dorthin abschieben. Doch nun führen auch von außerhalb des Maghreb die Routen immer häufiger in die Königin der Seebäder“, aus Sudan und Nigeria, Somalia und Irak, ab und an sogar aus Afghanistan. Wer von dort in den letzten Jahren nach England aufbrach, versuchte es meist über Calais.

Doch der Wind am Kanal scheint sich zu drehen. Im Spätsommer kündete der Bürgermeister von Ostende eine härtere Gangart an. Um die 1.500 Transitmigranten trafen seine Beamten dieses Jahr bislang an, und darum sollen örtliche, Eisenbahn- und Schifffahrtspolizei mit zusätzlichen Patrouillen jeden Tag 20 Personen festnehmen. Neue Zellen müssen gebaut werden, denn wer verhaftet wird, soll ausnahmslos zwölf oder gar 24 Stunden einsitzen. Mitte September begannen die Kontrollrunden. Johan Vande Lanotte, ehemaliger Minister und Chef des Hafens, forderte vor TV-Kameras, Ostende müsse der schlechteste Platz für die Überfahrt nach England werden.

Seither werden die Rückzugsräume in der Stadt knapp, abgesehen von einem Wohlfahrtszentrum, wo Transitmigranten morgens duschen können und umsonst Essen bekommen. Dazu gibt es einmal in der Woche medizinische Versorgung und Rechtsberatung. Zugang zu anderer Hilfe haben sie nicht, denn niemand käme auf die Idee, in Belgien um Asyl zu fragen. Immerhin betritt die Polizei das Haus nicht, versichert Tine Wyns, die Direktorin. Dennoch geht die Angst um, seit die Stadt ihre neue Strategie verkündete. Die so neu nicht ist, merkt sie an, denn wer erwischt wird, bleibt auch heute schon eine Nacht in Gewahrsam. Und auch in Zukunft wird man die Transitmigranten danach wohl laufen lassen.

Letzte Station Belgien

Während eine Lösung nicht in Sicht ist, fordert die Situation ihre Opfer. So wie Yacine, ein junger Algerier mit hagerem Gesicht, schütterem Haar und doppelt gebrochenem Arm. Neulich kam die Polizei um Mitternacht in die verfallene Bootsfabrik im Hafen, wo er schläft. Yacine wollte fliehen, stürzte in der Dunkelheit und fiel drei Meter die Treppe hinunter. An Zäune, LKW oder Fähren braucht er vorerst nicht zu denken.

Mit einigen Bekannten steht Yacine im Hof des Wohlfahrtszentrums und diskutiert mit Ibrahim, der gestern abgeschoben wurde aus dem gelobten Land. Nach Belgien, wo er vor Jahren seine Fingerabdrücke ließ, und das nach dem Dublin-Abkommen für ihn zuständig ist. Auf der Einwanderungsbehörde sagte man ihm, er solle sich verpissen. Weil er dort Frau und Kinder hat, will er zurück nach Birmingham. Ansonsten ist er fertig mit dem Traum von England. "U.K. is rubbish“ - das ist seine Bilanz. "Und das sage ich den anderen die ganze Zeit. Aber sie wollen das nicht hören.“

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