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"Labyrinthische“ Literatur

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MANIERISMUS IN DER LITERATUR. Sprachalchimie und esoterische Kombinationskunst. Von Gustav Rene Hocke, rowohlts deutsche enzyklopädie, Band 828J. Hamburg 1959. 339 Seiten. Preis 22.50 S

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MANIERISMUS IN DER LITERATUR. Sprachalchimie und esoterische Kombinationskunst. Von Gustav Rene Hocke, rowohlts deutsche enzyklopädie, Band 828J. Hamburg 1959. 339 Seiten. Preis 22.50 S

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Der sogenannte Manierismus ist eines der interessantesten Phänomene der europäischen Kunst- und Geistesgeschichte. G. R. Hocke hat in dem Band „Die Welt als Labyrinth“ den Manierismus in der Kunst untersucht, nun wendet er sich der Darstellung des literarischen Manierismus zu. Diese ist weit mehr als ein ausgedehnter, abenteuerlicher Rundgang durch das Kuriositätenkabinett der Literatur, es wird hier eine typische Art des Welterlebens und ihre literarische Manifestation in ihren psychologischen, philosophischen, religiösen und historischen Voraussetzungen charakterisiert und der Gang ihrer geschichtlichen Entwicklung verfolgt. Dabei werden die größeren geistigen Zusammenhänge, .in die das Phänomen eingebettet ist, erhellt.

Den Manierismus erkennt Hocke als eine „Ausdrucksgebärde", die nicht nur auf die eigentliche manieristische Stilepoche zwischen 1520 und etwa 1620 begrenzt bleibt, sondern als eine „antiklassische und antinaturalistische Konstante der europäischen Geistesgeschichte". Sein literarischer Vorläufer ist der „asianische“ Stil, der sich in der Antike im griechischen Kleinasien ausbildete, als Gegensatz zum „Attizismus“. Dem Klassischen, Harmonischen Und Regelhaften tritt das „Irreguläre“ gegenüber. Die Merkmale des Manierismus sind nach Hocke unter anderen: „affektvolle Uebersteigerung oder kälteste Reduzierung des Ausdrucks, Verbergung und Ueber- deutlichkeit, Verrätselung und Evokation, Chiffrierung und ärgerniserregende .Offenbarung’ “. Dies alles wächst aus einem problematischen Verhältnis der Autoren zum eigenen Ich, zur Welt, zu den überlieferten Ordnungen, und ist Auswirkung einer zunehmenden Auflösung absoluter Werte und eines gesteigerten Subjektivismus. Hocke spricht treffend von einer „geistesgeschichtlichen Höhlenkunde" des literarischen Manierismus, denn hier handelt es sich vor allem um das Geheime und Untergründige der Geisteskultur Europas. Daidalos, der Erbauer des Labyrinths, ist gleichsam das mythische Urbild der Manieristen, denn in ihm wurde, wie Hocke meint, ein Grundprinzip des Manierismus Ereignis: „die Mischung von Affekt und Kalkül“. Das Labyrinth kann als ein Symbol der manieristischen Geistigkeit gelten.

Der Verfasser hat ein überaus reiches Material geboten, das aus den europäischen Literaturen geschöpft ist. Der Leser soll in die „esoterischen Labyrinthe des europäischen Kulturorganismus“ eindringen und so ein tieferes Verständnis für die besonderen Spannungsverhältnisse im modernen Menschen gewinnen. Es wird auch darauf hingewiesen, daß zur Tiefenpsychologie eine Tiefenästhetik treten müsse.

Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert: „Der magische Buchstabe". „Die Welt in Bildern , „Para- Rhetorik und Concettismus", „Der Mensch als künstlerische Fiktion“. Ein abschließendes Kapitel, „Der Mensch als manieristisches Thema“, behandelt vorwiegend die religiösen Aspekte und stellt Pascal als einen der geistigen Ueberwinder des Manierismus dar. Welch eine seltsame Geisteswelt öffnet sich da dem Leser: Narren, die im Schatten halber "Vergessenheit liegen die Aesthetiker und Program- matikef des Manierismus, wie etwa Tesauro. Pere- grini, Gracian, Athanasius Kircher, kühne Experi-mente mit der Sprache, Sprachalchimie, große Kombinationskunst, Para-Rhetorik, absonderliche Stilfiguren, Metaphern von extremer Künstlichkeit, Concettismus aenigmatische Poesie, Emblematik usw. All dies steht im Zeichen des manieristischen Strebens nach Vereinigung des Gegensätzlichen, des Hanges zum Phantastischen, Paradoxen, Bizarren und Absurden. Durch das Studium der formalen Manierismeii, durch eine „Formenkunde des Irregulären“ lernt man diese seltsame Kunstrichtung verstehen. Die Abgrenzung des Manierismus zum Barock ist nach Meinung Hockes in der absoluten Wertordnung des Barocks gegenüber der manieristischen Relativierungstendenz gegeben. Auch in der modernen Literatur findet Hocke Beispiele für ein Weiterleben des Manierismus — wieweit er hierin recht hat, darüber läßt sich diskutieren —, doch handelt es sich in diesen Fällen wohl kaum um bewußte Anknüpfung an die manieristische Tradition, sondern um eine ähnliche Seelenverfassung, in der Unsicherheit und Weltangst eine große Rolle spielen. Ein Anhang bietet eine „Miniaturanthologie“ manie- ristischer Poesie von Gongora bis Paul Celan, die man doch etwas umfangreicher wünschte. Daß das reichhaltige, wertvolle Literaturverzeichnis, eine ganze Bibliographie des Manierismus, nicht alphabetisch geordnet ist, wird als nachteilig empfunden.

Ein hochinteressantes, in gewissem Sinne erregendes Werk, aus intensivem Studium entstanden. In diesem zuerst etwas verwirrend erscheinenden Mosaik vielfältiger Einzelheiten formt sich dem aufmerksamen Leser doch klar die literarische Gestalt des Manierismus, der ein Kapitel der Seelengeschichte des Menschen seit der Renaissance in dichterischer Spiegelung sichtbar macht. Manche Deutungen des Autors werden vielleicht Einwänden begegnen — wie könnte es anders sein! Man wird wohl auch Ergänzungen vorbringen und die Beispiele vermehren können. Jedenfalls gibt Hockes Buch eine Fülle von Anregungen und Wegzeichen für weitere Forschungen und fruchtbare Diskussionen. Ist das ein Thema nur für Spezialisten, weitab von unserer heutigen Wirklichkeit? Nein. Im Manierismus werden, wie Hocke sagt, geistige Abgründe der Menschheit erkennbar, die heute mehr denn je drohen. „Es gehört zur Aufgabe unserer Generation, ihre geistigen Energien nicht nur an eine bloße Erkenntnisarbeit zu verschwenden. Sie hätte daraus ethische Folgerungen zu ziehen. Die Begegnung mit der gesamten Tradition des Irregulären kann dazu neue Wege weisen.“ Diese Besinnung auf die Kräfte der Erneuerung, die nur aus dem Glauben strömen können, ist ein wichtiges, nicht zu überhörendes Anliegen des Autors.

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