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Mythos und Psychologie

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Auch einige Ausnahmen vermögen das Unbehagen nicht zu tilgen, das landläufige Literaturgeschichtsschreibung und gerade in jüngster Zeit wieder besonders aktivierte Literaturwissenschaft hervorrufen: jene in der Periodengliederung, die 6ich abstrakter und dann verabsolutierter Merkmale bedient, diese in der mangelhaften Theorienbildung, in der immer wieder die alte Poetik und subjektive Geschmacksurteile zum Vorschein kommen. Der Wiener Staatsbibliothekar Robert Mühlher versucht nun in diesen acht Studien eine Methode, welche sowohl dem Bedürfnis nach Uberediaubarkeit des zeitlichen Nacheinander (Liteiaturgeschichte), als auch^ dem nach Kenntnis der konstitutiven Elemente (Literaturwissenschaft) genügt, wobei er auf Schachtelkategorien und subjektive Werturteile verzichtet.

Seine Betrachtungsweise ist 6ymbolkundlich, das heißt auch motivgeschichtlich und ideengeschichtlich. Daraus folgt eine gründliche Befragung der Texte, welche nicht „übertragen“, sondern in ihrem spezifischen Verstände angenommen werden. Das Untersuchungs-regoilativ besteht darin, daß Mühlher durch die psychologischen Befunde ihre mythologischen Modelle avisiert. Damit werden Fragen der Weltanschauung zentrales Thema. Will man in gewissem Sinne Psychologie für säkularisierte Mythologie nehmen, 60 würde die immer mehr dominierende Stellung jener genau der Rolle aller möglichen Er6atzmytho-logeme entsprechen, die ihrerseits den Verlust an religiösem Erleben wettmachen sollen. Womit berührt wäre, was Robert Mühlher unter Krise versteht: nämlich die 6eit etwa zweihundert Jahren verfolgbare Hinwendung zum Irrationalen, Mythischen (und daher heute Psychologischen) als Kompensierung von Verlusten gefühlssättigender, ursprünglicher Bindungen und religiösen Erlebens innerhalb einer geltenden Ordnung. Daß der Verfasser nicht fingerfertig Rezepte verschreibt, sondern seine versammelte Anstrengung und sein imponierendes historisches und philologisches Wissen der Diagnose zuwendet, nimmt ebenso für ihn ein wie die sorgfältige Methode, mit welcher er zu Werke geht.

Es wird einleuchten, daß ein knappes Referat keinesfalls auch nur ungefähr nachzeichnen kann, inwiefern Mühlhers Verfahren in den acht Studien des Bandes jeweils 6eine

Fruchtbarkeit erwei6t. Gleichwohl 6ei auf den unterschwelligen Zusammenhang dreier Essays verwiesen; es 6ind dies: „Georg Büchner und die Mythologie des Nihilismus“, „Conrad Ferdinand Meyer und der Manierismus“ und „Narciß und der phantastische Realismus“. (Um Mißverständnisse auszuschließen: es handelt 6ich bei diesen „temen“ um keine ästhetischen Kategorien und Periodenbezeichnungen, sondern um Weltanschauungstypen.)

Vergegenwärtigt man 6ich den Untertitel des Buches und 6etzt ihn zu den drei genannten Studien in Verbindung, 60 heißt da6 hinsichtlich Büchner: Mühlher verfolgt den Weg der Psychologie und der Mythologie mit dem bemerkenswerten Ergebnis, daß er die Affinität der Epoche zur Schizophrenie feststellt und die These formuliert, daß der Symptomenkomplex der melancholischen Psychosen 6ich mit dem Weltbild des Skeptizismus und des Nihilismus decke. Diese Abdeckung einer geistesgeschichlichen Erkenntnis durch eine genau passende psychologische wollen wir deshalb 60 schätzen, weil jene in dieser verläßlicher gesichert erscheint. Für den „Manierismus“ gibt Mühlher zahlreiche Bestimmungsstücke. Nicht ist unter diesem Begriff zuvorderst die von G. Keljer getadelte „Affek-tation des Stils“ (nämlich des Meyerschen) zu verstehen, sondern eine moralisierende, anthropozentrische, naturfremde Haltung, die, biologisch gesehen, herabgestimmter, geschwächter Lebenskraft entstammt. Mühlhers Scheidung de6 Manierismus in einen tragischen und einen dämonischen kann nur beiläufig vermerkt werden. Der Schlüssel zum „phantastischen Realismus“ — hier behandelt der Verfasser unter anderem Kafka, Kubin, Heym — dürfte in der Einsicht zu finden 6ein, daß der Realitätsgrad subjektiv wählbar wurde. Setzt man diese Tatsache in Zusammenhang mit Mühlhers Büchner- und Meyer-Analysen, 60 ist man al6 Betrachter selbst den neuesten Kunstmanifesten gegenüber gerüstet, und das Konzept des Autors wird glänzend bestätigt. Wenn das Buch einen Wunsch offen läßt, so den, Robert Mühlher möge dem letztgenannten Thema eine größere Arbeit widmen, um auch in ihr jene Klarheit zu erreichen, welche in der Meyer-Studie so musterhaft erreicht ist.

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