Poor Things - © Disney

"Poor Things": Frankenstein-Feminismus

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Yorgos Lanthimos hält in „Poor Things“ der Welt den Spiegel vor – in viktorianischer Verkleidung und mit der Kraft von Opulenz und Absurdität.

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Yorgos Lanthimos hält in „Poor Things“ der Welt den Spiegel vor – in viktorianischer Verkleidung und mit der Kraft von Opulenz und Absurdität.

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Das noch junge Jahr 2024 wird schon mit einem Schwergewicht an Film geadelt, an dem man einfach nicht vorübergehen kann. Yorgos Lanthimos’ fantastische Bilderorgie „Poor Things“ spielt auch in der Handlung alle Stückeln und konnte bereits im Herbst in Venedig den Goldenen Löwen holen. Und soeben brachte Emma Stone den Darstellerinnenpreis bei den Golden Globes nach Hause. Dabei sind die Oscarnominierungen noch gar nicht bekannt ...

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Fantastisch-orgiastisch überhöht

Lanthimos hat sich ja schon geraume Zeit auf Gesellschaftskritik im Gewand von Satire und fantastisch-orgiastischer Überhöhung spezialisiert. In seinem ersten internationalen Erfolg dieses Genres, „The Lobster“ (2016), verwandelte er Menschen in Tiere, wenn sie sich nicht auf Befehl verliebten . Zuletzt – 2018 – versuchte sich der griechische Regisseur in „The Favourite“ am Hofstaat der englischen Queen Anne im 18. Jahrhundert, wo er durchaus aktuelle gesellschaftliche Befindlichkeiten auf köstlichste Weise ins Barock zurückprojizierte: Zehn Oscarnominierungen heimste er bereits damals ein, Olivia Colman bekam den Preis für die beste Hauptdarstellerin.

Der Erfolg beflügelte Lanthimos sichtlich, sein Rad in Sachen Opulenz und Absurdität weiterzudrehen, sodass er diesbezüglich unversehens zu Wes Anderson, einem anderen Großmeister des fantastischen Absurden, aufzuschließen scheint.

Die Basis von „Poor Things“ bildet der gleichnamige Roman von Alasdar Gray, der sich einer ganz eigenen Variation des Frankenstein-Mythos befleißigt, der für den Geschlechterkampf und -krampf die Bühne bereithält.

lanthimos - © APA

Yorgos Lanthimos

Der griechische Filmschauspieler, Filmproduzent und Film- und Theaterregisseur (Jg. 1973) wurde international durch seine Filme "The Lobster" (2016), "Killing of a Sacred Deer" (2017) und "The Favourite" (2018) bekannt.

Der griechische Filmschauspieler, Filmproduzent und Film- und Theaterregisseur (Jg. 1973) wurde international durch seine Filme "The Lobster" (2016), "Killing of a Sacred Deer" (2017) und "The Favourite" (2018) bekannt.

Im London des 19. Jahrhunderts treibt der – selbst wie ein Frankenstein-Monster entstellte – Anatomie-Professor Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) sein Wesen: Er beauftragt seinen jungen Studenten Max MacCandless (Ramy Youssef), eine junge Frau, die bei ihm lebt, zu beobachten und das zu dokumentieren.

Bella Baxter heißt das Geschöpf, und alsbald stellt sich heraus, dass die junge Dame zwar den Körper einer Erwachsenen hat, sich geistig aber auf der Stufe eines Kleinkinds befindet. Alsbald werden Maxens dunkle Ahnungen von der Realität bestätigt: Denn Professor Baxter, der sich überdies von Bella mit seiner Namenskurzform „God“ anreden lässt, ist das Produkt eines grausigen Experiments. Bellas Körper ist der einer Frau, die in selbstmörderischer Absicht in die Themse gesprungen war: Ihr implantierte der verrückte Professor das Gehirn des eigenen Kindes, das bei ihrem Tod noch ungeborenen war – und „erweckt“ sie so wieder zum Leben.

Mutter-Tochter-Chimäre

Als Mutter-Tochter-Zwitter wächst Bella heran, und Max soll, so Gods Intention, vor allem schauen, dass sie ein Leben in geordneten Bahnen schafft. Doch die Diskrepanz zwischen Körper und Hirn hat ungekannte Tücken zur Folge: Bella sucht Nähe bei jeder Person, die man an sie heranlässt, und mehr noch: Sie entpuppt sich als sexsüchtige Pubertierende. God ist mehr als froh, dass sich Max in sie verliebt, er erlaubt seinem Famulus, Bella zu heiraten.

Doch bevor es zur Hochzeit kommen kann, betritt ein Winkeladvokat namens Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) die Szenerie und verführt die unbedarfte Maid im Frauenkörper. Aus Gods Menschenexperiment wird alsbald eine Emanzipationsgeschichte.

Poor Things - © Disney
© Disney

Diese feministische Spielart eines Frankenstein-Monsters lernt in einem Parforceritt durch die viktorianische Welt, die eigene Lust auszuleben sowie soziale Ideen zu entdecken und weiterzuverfolgen: Mit Duncan macht sich Bella auf die Reise nach Lissabon, Alexandria, Paris.

In Portugals Hauptstadt packt Bella der Fado; in Alexandria erwacht ihr soziales Gewissen – und sie verteilt die Glücksspielerträge Duncans an die Armen; in Paris entdeckt sie, wie man mit Sexarbeit viel Geld verdienen kann – und lässt Duncan als vielfach gehörnten Liebhaber verzweifeln.

Emma Stone, Königin des Films

Opulenz und Absurdität – Nacktheit und kindliches wording von Handlungen, die sonst unter Pornografie fallen würden: „Poor Things“ lässt kaum eine Übersteigerung aus, um den Weg Bellas von der rettungslos Naiven zur gestandenen Zeitgenossin im Fin de Siècle zu zeichnen. Aber all dies hat – das ist ja Yorgos Lanthimos’ diabolische Filmlist – mehr mit den aktuellen Verwerfungen des 21. Jahrhunderts zu tun, als man ob der pseudohistorischen Verkleidung von Orten und Personen vermuten würde. Und der God-Vater von Bella findet sich als Faust wieder, der seines weiblichen Homunculus nicht mehr Herr werden kann.

Willem Dafoe verleiht diesem God eine geradezu sardonische Präsenz, Mark Ruffalo deckt als Duncan ein ganzes Spektrum vom Wüstling bis zum Verwüsteten grandios ab. Aber die Königin von „Poor Things“ ist Emma Stone, die als Bella Baxter auf eine Weise brilliert, die ihr so schnell niemand sonst nachmacht. Die verletzliche Kleine, deren Verwundbarkeit im Körper der Großen so absurd sichtbar wird, hält fürs Publikum einiges zum Lachen bereit. Ein Lachen, das aber gleichzeitig ob der Zumutungen, die dieser Film auch im Gepäck hat, schnell gefriert.

Poor Things - © Disney
© Disney
Film

Poor Things

GB 2023. Regie: Yorgos Lanthimos.
Mit Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, Ramy Youssef.
Disney. 141 Min.

Regisseur Yorgos Lanthimos im Interview über "The Lobster"

LanthimosVenedig - Lanthimos steht mittig im Bild mit dem goldenen Löwen, seinem Preis bei den Filmfestspielen in Venedig, in der Hand. - © Foto: APA / AFP / Gabriel Bouys
© Foto: APA / AFP / Gabriel Bouys

Lanthimos steht mittig im Bild mit dem goldenen Löwen, seinem Preis bei den Filmfestspielen in Venedig, in der Hand.

"Die Realität zu zeigen ist für mich nicht interessant. Im Film die Realität als real nachzustellen, ist langweiliger als die Realität selbst. Nimmt man den Realitätsanspruch weg, kann man tief graben", sagte Regisseur Yorgos Lanthimos im FURCHE-Interview über seinen Film "The Lobster" 2016. Hier nachzulesen.

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