Das Ereignis - © Foto: Prokino

Verfilmung von Annie Ernaux „Das Ereignis“: Das Verschwiegene

19451960198020002020

Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen für den „Besten Film“ bei den Filmfestspielen in Venedig: Audrey Diwan hat „Das Ereignis“ von Annie Ernaux verfilmt und eine entsprechende Form gefunden.

19451960198020002020

Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen für den „Besten Film“ bei den Filmfestspielen in Venedig: Audrey Diwan hat „Das Ereignis“ von Annie Ernaux verfilmt und eine entsprechende Form gefunden.

Werbung
Werbung
Werbung

„Mein doppelter Wunsch: daß das Ereignis zum Geschriebenen werde. Und das Geschriebene Ereignis sei.“ Mit diesem Motto von Michel Leiris beginnt Annie Ernaux 2000 ihre Prosa „Das Ereignis“, die 2021 auch auf Deutsch erschienen ist. Die „Ethnologin ihrer selbst“ ist schreibend unterwegs zu Ereignissen aus ihrer Vergangenheit, und „schreibend“ meint hier wirklich einen Prozess, bei dem erst etwas sichtbar wird. Ernaux’ Bücher sind aber immer auch Forschungsreisen in die Gesellschaft und zu deren Rahmen und Bedingungen, in denen Ernaux – aber eben nicht nur sie – lebte und lebt. So sind ihre Bücher zwar einerseits autobiografisch, zugleich aber immer auch viel mehr als das, nämliche soziologische Erkundungen. Kennzeichnend für ihr Schreiben sind unter anderem der nüchterne Blick und die ständigen Selbstbefragungen, auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Quellen: Was ist denn von der eigenen Erinnerung belegt und wodurch? Es gibt Kalendereinträge und Notizen – und dann kann sie noch eintauchen in die Bilder, „bis mir Worte einfallen, von denen ich sagen kann, ‚das ist es‘“.

Den erforschenden Blick behält sie selbst bei der Beschreibung auch noch so schlimmer Ereignisse, mehr noch, dieser scheint ihr umso wichtiger genau dort, wo normalerweise Aussparungen weitergereicht werden und Tabus somit Tabus bleiben. „Auch wenn Abtreibungen in vielen Romanen vorkamen“, schreibt Ernaux, „wurde nie genau beschrieben, wie sie vonstatten gingen. Zwischen dem Moment, in dem eine junge Frau merkt, dass sie schwanger ist, und dem Moment, in dem sie es nicht mehr ist, gibt es eine Ellipse.“ Diese Leerstelle füllt sie in ihrem Text aus, sie schaut grausam genau hin, selbst auf Stricknadeln und Sonde, die dem heranwachsenden Embryo das Leben nehmen sollen. Aber: „Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern“.

Ernaux’ Bücher sind zugleich immer auch Forschungsreisen in die Gesellschaft und deren Bedingungen.

Diesen Ansatz verfolgt auch der preisgekrönte Film von Audrey Diwan. Auch sie verschleiert nichts, auch sie bleibt bei der Protagonistin und blendet nicht aus, wo es beginnt, wirklich weh zu tun, und die Zeit sich auf eine fast unerträgliche Weise dehnt. Die Reflexionen über das Tun, bei Ernaux über das Schreiben, fallen hier zwar weg, dafür ist die Kamera ständig bei Anamaria Vartolomei, die ihre Rolle bestürzend gut spielt. Zuseher und Zuseherinnen werden Zeugen einer zunehmenden Einsamkeit. Während anfangs noch vertrauter Trubel die Geräuschkulisse bildet, scheint Annes Welt und Wahrnehmung immer innerlicher zu werden. Der Schmerz und die Last, alleine mit ihrer Situation zurechtkommen zu müssen, werden zwar kaum ausgesprochen – nicht einmal schreien darf sie, als sie bei der Engelmacherin liegt, denn die Wände sind ja so dünn –, aber sie zeigen sich in Mimik und Gestik ebenso wie ihre Kraft und Stärke.

Annes Kampf ist auch ein sozialer, ermöglicht doch das Studium den Aufstieg aus der Arbeiterklasse - die Schwangerschaft bedroht diesen nun. „Doch weder das Abitur noch ein erster Universitätsabschluss in Literatur konnten die unvermeidliche Weitergabe der Armut verhindern“, so heißt es bei Ernaux, „deren Symbol die unverheiratete Schwangere war, im selben Maße wie der Alkoholiker. Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs.“

Über allem steht bei Ernaux das Gesetz, das auch Menschen, die mitfühlen, keine Möglichkeit gibt, der jungen Frau zu helfen. Die Einsamkeit einer jungen, ungewollt schwangeren Frau Anfang der 1960er Jahre in einem System, das sie mit diesem Problem völlig alleine lässt, zeigt der Film, der beim Filmfestival von Venedig 2021 mit dem Goldenen Löwen als „Bester Film“ geehrt wurde, auf eine Weise, die Ähnliches versucht wie Ernaux beim Schreiben. Es wird nicht geurteilt, nicht moralisiert, es wird gezeigt. Durch die Nähe der Kamera wird auch das Zusehen zur körperlichen Erfahrung.

Und am Ende? Will Anne Schriftstellerin werden. Man hört den Stift am Papier. „Beim Schreiben muss ich manchmal dem Drang widerstehen, in einen wütenden oder schmerzerfüllen Lyrismus zu verfallen“, so Ernaux im Buch. „Ich will in diesem Text nicht tun, was ich im echten Leben nicht getan habe oder nur ganz selten, schreien und weinen. Stattdessen nah dranbleiben am Gefühl eines gleichmäßig dahinfließenden Unglücks, ausgelöst von der Frage einer Apothekerin und vom Anblick einer Haarbürste neben einer Wasserschüssel, in der eine Sonde schwimmt. Denn die Erschütterung, die ich empfinde, wenn ich die Bilder aus jener Zeit vor mir sehe, wenn ich die Worte noch einmal höre, hat nichts damit zu tun, wie ich damals empfand, es ist nur ein Schreibgefühl. Damit meine ich: ein Gefühl, das das Schreiben ermöglicht und seine Wahrhaftigkeit garantiert.“

Das Ereignis - © Foto: Prokino
© Foto: Prokino
Film

Das Ereignis

F 2021. Regie: Audrey Diwan.
Mit Anamaria Vartolomei.
Prokino. 100 Min.

Das Ereignis - © Foto: Suhrkamp
© Foto: Suhrkamp
Buch

Das Ereignis

Von Annie Ernaux
Aus dem Franz. von Sonja Finck
Suhrkamp 2021 104 S., geb., € 18,50

Navigator

Hat Ihnen dieser Text gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 175.000 Artikel aus 40 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 175.000 Artikel aus 40 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung