7124690-1996_51_10.jpg
Digital In Arbeit

Flieg, kleiner Kanarienvogel!

19451960198020002020

Anno 1904 beschrieb der slowenische Schriftsteller Ivan Can-kar das Schicksal der kleinen Malci, die im „Haus der Barmherzigkeit” ein Dasein zwischen Leben und Tod fristet.

19451960198020002020

Anno 1904 beschrieb der slowenische Schriftsteller Ivan Can-kar das Schicksal der kleinen Malci, die im „Haus der Barmherzigkeit” ein Dasein zwischen Leben und Tod fristet.

Werbung
Werbung
Werbung

Leise schloß sich das große eiserne Tor; im düsteren Gang, auf den kalten Wänden leuchtete einen Lidschlag lang die Herbstsonne.” So beginnt Ivan Cankars 1904 verfaßter Boman „Das Haus der Barmherzigkeit”, der nun erstmals unzensuriert in deutscher Übersetzung vorliegt. Ivan Cankar lebte von 1876 bis 1918 als freier Schriftsteller in Wien und in Slowenien. Er zählt zu den bedeutendsten Vertretern der slowenischen Moderne. Sein Gesamtwerk umfaßt 30 Bände.

In recht karger, einfacher Sprache schildert der Autor das Leben - das man brutaler, aber treffender als Vegetieren bezeichnen muß - von vierzehn Mädchen, das sich in einem Schlafsaal des „Hauses der Barmherzigkeit” abspielt. Das „Haus der Barmherzigkeit” im 18. Wiener Gemeindebezirk, mittlerweile mit rund

600 Patienten Wiens einziges geria-trisches Spital, nahm zu Beginn seiner Gründung 1875 Arme und Behinderte auf. Auch heute zählt die Behindertenbetreuung junger Menschen zu den Aufgaben des Spitals.

Zurück in das Jahr 1904: Jedes einzelne der Mädchen ist schwerkrank: offene AVunden, Geschwüre, Behinderungen geistiger und körperlicher Natur sind vorhanden. In regelmäßigen Abständen stirbt eine von ihnen. Mit verachtender Gleichgültigkeit und unschuldiger Gelassenheit begegnen die Kinder dem Tod, der ihnen wie eine Erlösung erscheinen muß.

Der kleine Kanarienvogel taucht eines Tages auf. Mit großem Erstaunen erleben die Mädchen sein anfängliches Mißtrauen, sein ängstliches Flattern bei jeder menschlichen Annäherung, schließlich seine Zähmung durch Malci, jenes Mädchen, das als 1 .etzte in den Beigen der Todgeweihten tritt. Er, der kleine Vogel, den sie „Hansi” nennen, symbolisiert mit seinem Gekreische und Gepfeife, in seiner stürmischen Flattrigkeit für kurze Zeit das Leben. Die düstere Morbidität wird für eine kurze Weile zugedeckt. Der Vater von Kathi, der eines Tages zu Besuch kommt, löst seinen Tod aus. Aus Panik vor der „riesigen schwarzen Hand”, die sich nach ihm ausstreckt, fliegt der Kanari gegen die Fensterscheibe - und stirbt.

Ebenso karg und subtil, wie er die Biographien der Kinder beschreibt, bringt Cankar dem Leser auch seine Kritik am Sozialsystem und an einer verlogenen kirchlichen Todesverehrung nahe. Da tritt die reiche Gräfin auf, die mit Handschuhen vier Bis kotten unter den vierzehn Mädchen verteilt und dann für sich selbst als Almosenspenderin beten läßt. Die Formel „Gottes Wille geschehe”, die alles rechtfertigen und erklären soll, erfährt eine dramatische, menschen-verachtende Verzerrung. In - einer Welt „voll schrecklicher, heiliger Geheimnisse” findet Malci den Tod.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung