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Digital In Arbeit

Der bäuerliche Sozialroman fehlt noch

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Und die anderen Folgen der Kinderarbeit? Die Schul- und Assentierungsärzte wissen darüber Bescheid. Haltungsschäden, Wirbelsäulenkrümmung, große und kleine gesundheitliche Schäden sind oft der bittere Lohn für die schwere Arbeit. Nicht zu reden von dem mangelnden Lernerfolg, verursacht durch die physische Überlastung und Konzentrationsschwäche. Dies, obwohl der Bauer von morgen Bildung notwendiger denn je benötigen würde.

Man fragt sich, gibt es denn kein Gesetz, das dem Raubbau in der Gesundheit der bäuerlichen Jugend Einhalt gebietet?

Laut § 77 des Landarbeitergesetzes aus dem Jahre 1948 ist die Kinderarbeit in der Land- und Forstwirtschaft durch das betreffende Bundesgesetz aus dem Jahre 193 5 (Bundesgesetzblatt 297) geregelt. Der § 4 dieses Gesetzes besagt:

Kinder dürfen in der Landwirtschaft nur insoweit verwendet werden, als sie dadurch in ihrer Gesundheit nicht geschädigt und in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung nicht gehemmt werden; die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten darf nicht gehindert und ihre Sittlichkeit nicht gefährdet werden; sie dürfen im Besuch der Schule sowie in der Möglichkeit, den Schulunterricht mit Nutzen zu folgen, nicht beeinträchtigt werden.

Überdies erlaubt dieses Gesetz die Verwendung von Kindern nur zu leichter Arbeit (ab 10 Jahren). Eine Reihe von Beschäftigungen sind ex lege ausdrücklich untersagt: die Bedienung von Kraftmaschinen sowie aller durch Motoren betriebenen Arbeitsmaschinen; die Verwendung bei Stroh- und Futtermaschinen, bei Arbeitsvorrichtungen, die mit Staubentwicklung verbunden sind; Dreschen, Mähen, Holzfällen, Holzhacken usw.

Die Lehrer an den öffentlichen Schulen sowie die Ärzte sind übrigens nach dem Gesetz verpflichtet, Wahrnehmungen über die Verletzung von Vorschriften über Kinderarbeit den zuständigen Behörden zu melden. Ob sie es auch immer tun, ist eine andere Frage.

Die Kinderarbeit auf dem Land — mitsamt ihren Auswüchsen — wird heute allem Anschein nach sowohl von einem Großteil der Bauern wie auch den zuständigen Stellen als notwendig und selbstverständlich hingenommen. Es gibt offenbar auch keinen Charles Dickens, der dieses Problem einmal aufgreifen würde. Unsere Bauernromane sind meist übelster Kitsch, die von der Romantik einer vergangenen Zeit leben. Es scheint, das Bauerntum von heute brauchte eine echte lebensnahe Sozialliteratur, um uns allen die Augen zu öffnen. Ein David Copperfield müßte wieder einmal geschrieben werden, einer, der auf unseren Bauernhöfen des 20. Jahrhunderts um fünf Uhr früh das Grünfutter mäht, der vom Lenkrad der Traktoren krumme Hände bekommt.

Es kann hier nicht untersucht werden, wieweit die Kinderarbeit auf dem Land heutzutage „berechtigt“ ist und wieweit sie als unverantwortliche Ausbeutung der Substanz des Bauerntums angesehen werden muß.

Bauer und Gesundheit, das sind — oder waren — für viele Städter zwei Begriffe, die unzertrennlich mitsammen verbunden scheinen. Verschiedene Untersuchungen haben jedoch in letzter Zeit gezeigt, daß der Gesundheitszustand der bäuerlichen Bevölkerung mancherorts um vieles schlechter ist als der der Städter. Nicht nur die Kinderarbeit ist daran schuld. Es ist die manchmal einseitige, ungesunde Ernährung, der Mangel an Hygiene und nicht zuletzt das Fehlen einer obligatorischen Krankenversicherung.

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