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Gottfried Semper

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Niederlagen sind oft der Ausgangspunkt zweiter Karrieren. Der Dresdener Architekturprofessor Gottfried Semper wäre wohl niemals geworden, der er war, hätte er nicht sehr plötzlich Dresden verlassen müssen. Die Bedeutung dieses Knicks im Schaffen jenes Mannes, dem Wien die beiden Museen, die neue Hofburg und das Burgtheater verdankt, wird nun noch deutlicher — durch die Publikation seines zeichnerischen Nachlasses in Zürich. Noch deutlicher wird dies wahrscheinlich hervortreten, wenn erst einmal der Rest des architekturhistorischen Mammutunternehmens, das hier in Angriff genommen wurde, vorliegt. Ein kritischer Katalog der an anderen Orten, darunter in Wien, gelagerten zeichnerischen Nachlässe (Zürich besitzt allerdings den Hauptanteil) und später ein dritter Band mit schriftlichem Nachlaß, hier vor allem die theoretischen Schriften, soll folgen.

Semper war 45 Jahre alt, als die Laufbahn des aus Hamburg gebürtigen Dresdner Archtitekturprofes-sors jäh abbrach. Eigener Bekundung zufolge ein „gewöhnlicher Scharfschütze“ des Maiaufstandes, der nur dafür gesorgt habe, daß eine Barrikade nicht ausgerechnet vor seinem Wohnhaus errichtet werde, nach Ansicht der Polizei aber der Leiter des gesamten Dresdner Barrikadenbaues, mußte er fliehen. Ohne Aufträge, ohne Geld, ohne Professur, hatte er nun mehr als genug Zeit, sich in reifen Schaffensjahren mit der Architektur, deren Praxis ihm von einem Tag auf den anderen versperrt war, noch einmal gründlich theoretisch auseinanderzusetzen.

Wieweit er über die theoretischen Anstätze, zu denen er in seiner erzwungenen Schaffenspause gelangte, später noch hinausgekommen ist, Wird man wohl nach Erscheinen des dritten Bandes noch sehr viel genauer wissen. Was die vorliegende Publikation des Zürcher zeichnerischen Nachlasses leistet, ist bedeutend genug: In erster Linie, so will mir scheinen, wird hier die Kreativität des Baukünstlers Semper auch jemandem, der täglich an einer ein-

maligen Ballung Semperscher Höchstleistungen vorbeifährt, in einem neuen stärkeren Licht gezeigt.

In der Entwicklung der Architektur zwischen Historismus und Funktionalität markiert Semper einen wichtigen Punkt: Die Emanzipation der Funktion von einer noch nicht abgelehnten Formensprache. Nicht der Künstler, sondern der für das Funktionieren eines Bauwerkes Verantwortliche lehnt sich auf, und nicht gegen historisches Dekor, sondern dagegen, Funktionen des Lebens im 19. Jahrhundert in gotische Raumprogramme und Raumproportionen zu zwängen. Das endgültige Semper-Bild dürfte noch nicht gefunden sein, denn die Bedeutung des Schrittes, für den er steht, wird auf Grund der perspektivischen Verkürzung im historischen Rückblick unterschätzt. Auch ist ja heutiges Architekturdenken lange nicht so funk-tionsbezogen und vom Ästhetischen emanzipiert, wie es sich gibt. Während bei Semper vielfach historischer Dekor die Funktionalität des zentralen Entwurfes verdeckt, kaschiert heute oft genug die „Formensprache unserer Zeit“ funktionell längst Überholtes.

Sempers Grundrisse und Raumprogramme haben ihre Aufgaben mit einer auch heute schwer überbietbaren Klarheit und Funktionalität erfüllt. Seine Fassaden aber waren historisch, das traditionelle Formengut, bei Ihm vor allem der Renaissance, wurde von Semper souverän eingesetzt, und seine Gegner waren damals nicht „Modernisten“, sondern „Traditionalisten“, deren Anschauung auf eine Unterwerfung unter historisches Formengut hinauslief. Sie haben Semper, wie so oft Futterneid ideologisch verbrämend, das Leben oft genug schwergemacht. Vor allem in Wien, wo — nach seinen Jahren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, wohin ihn sein Dresdner Barrikaden-Mitkämpfer Richard Wagner vermittelt und wo er unter anderem den ETH-Neubau geplant hatte — der ehemalige Revolutionär Semper 1870 seine Stellung als kaiserlicher Architekt antrat.

Man darf den folgenden Bänden, die ebenfalls in der Schriftenreihe des Institutes für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH im Birkhäuser-Verlag erscheinen sollen, mit großem Interesse entgegensehen. Denn Gottfried Semper ist längst nicht nur historisch interessant. Seine Bauten werden noch immer ihren Funktionen gerecht. Und in einer ganz bestimmten Richtung auch nach heutigen Maßstäben besser als sehr viele Neubauten. Nämlich in jenem Bereich, wo sich Ästhetisches, Psychologisches und Atmosphärisches mit dem Funktionellen zur Lebensqualität in modernen Großstädten vereint.

Wer in Versuchung gerät, Semper als „überholt“ abzuwerten, sollte sich vorstellen, die Wiener Museen, die Neue Burg und das Burgtheater wären im Krieg, wie die Semper-Oper in Dresden, zerstört, durch Neubauten ersetzt worden. Niemand kann solches wünschen. Doch was ist daraus zu folgern?

GOTTFRIED SEMPER — zeichnerischer Nachlaß an der ETH Zürich, Kritischer Katalog von Martin Fröhlich. Birkhäuser-Verlag, Basel und Stuttgart, 312 Seiten, 9 Farbtafeln, 500 Abbildungen und Zeichnungen, öS 670.—.

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