Bei der letzten Zusammenkunft im alten Jahr hatten wir uns gegenseitig alles Gute gewünscht. Mein Gesprächspartner fügte noch mit Betonung hinzu: vor allem Gesundheit — sie ist doch das Wichtigste.
Er war sicher nicht der einzige, der bei solchen Gelegenheiten so die Gewichte setzte. Was auch immer wir uns sonst wünschen — Glück, Erfolg oder Befriedigung -hängt mit an diesem Gewicht, welches das Uhrwerk unseres Lebens in Betrieb hält.
Trotzdem gefiel mir der Wunsch nicht Mir fielen die Menschen ein, bei denen ich wirklich reines Glück empfangen hatte: die schwerkranke Großmutter daheim in der Kindheit, die Pa-
tienten in Bethel während meiner Studentenzeit, die leidende Schwester, deren Kräfte als Pfarrfrau in der DDR viel zu früh aufgezehrt waren.
Ich dachte an Stunden, die meine Frau und ich damit zugebracht hatten, körperlich und seelisch Kranken Hilfe zu leisten — Stunden, die uns selbst reich und dankbar machten. Ich dachte auch an mich selbst. Je intensiver Krankheiten ihren Tribut forderten, desto klarer wurde mir, was wirklich wichtig ist.
Nicht die Gesundheit selbst ist das Herzstück unseres Lebens, sondern die ungeteilte Hinnahme aller seiner Stunden, der gesunden wie der kranken. Wo aber genommen wird, ist ein Geber vor-
ausgesetzt. Erst dann können wir selbst weitergeben, was wir an Erfahrungen mit Gesundheit und Krankheit zugeteilt bekamen — wiederum an Gesunde und Kranke.
Wem aber Gesundheit das wichtigste Gut ist, der steht hilf- und ratlos an den Betten der Kranken.
Daß wir die Leidenden nicht mehr in unserer Mitte ertragen, sondern immer kostspieligere Spitäler für sie errichten, ist die Folge dieser Hilflosigkeit. Wem Gesundheit die entscheidende Norm wird, der muß Krankheit für abnormal halten.
Zur wirklichen Gesundung durch Krankheiten genesen: das sollten wir uns als Wunsch weitergeben.
