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Sonderfall als Sündenfall?

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Einem Buch über die Besatzungszeit in Österreich hat der Historiker Manfried Rauchensteiner den Titel „Der Sonderfall" gegeben. „Gemessen an der alliierten Planung muß man es als Wunder ansehen, daß es Österreich nach dem Krieg wieder gab", schreibt Rauchensteiner. Am Ende der zehn Jahre Besatzungszeit von 1945-1955 stand dann auch die Entscheidung über unsere Neutralität. An der lag den Russen zunächst nichts, während der Westen über dieses Ansinnen besorgt bis verärgert reagierte.

Der Sonderfall Österreich bekannte sich dann zu einer Neutralität nach Schweizer Muster, und die Schweiz ihrerseits betrachtete sich immer als Sonderfall.

Viele Österreicher, nach Meinungsumfragen die Mehrheit, möchten, daß Österreich ein Sonderfall bleibt. Die Gründe für dieses Beharren wurzeln vor allem im Psychologischen. Ifl der Schweiz stimmen die Bürger am kommenden Sonntag über den EWR-Vertrag ab, und dieser 6. Dezember wird auch für uns Österreicher Konsequenzen haben: Ein Nein der Schweizer wird den Anti-EG-Stimmen in Österreich Auftrieb geben, ein Ja könnte auch in Österreich einen gewissen Umschwung bewirken.

In der Schweiz wird die Debatte um den Europäischen Wirtschaftsraum zwar auch oft sehr emotionell geführt, im gesamten aber niveauvoller und grundsätzlicher als bei uns die EG-Diskussion. Die Schweizer sind im allgemeinen nüchterner als wir Österreicher und legen Wert darauf, daß ihnen der Blick für die Realitäten der Gegenwart und der Zukunft nicht durch allzu sehnsüchtige Reminiszenzen aus der Vergangenheit verschleiert wird. So bemerkte jüngst die Züricher „Weltwoche" trocken: „Die Schweiz ist kein Sonderfall. Die Schweiz ist ein ganz gewöhnliches Land in Mitteleuropa." Und das unter dem Titel: „Der Sonderfall kippt in den Sündenfall."

Es sei sogar ein Glücksfall heißt es in dem Blatt, daß Arbeitslosigkeit, hohe Zinsen, hartnäckige Inflation und Betriebsschließungen das Land gerade jetzt ereilt hätten, „wie um zu beweisen, daß die Schweiz auch als Einzelgänger-Land gegen diese Plagen nicht gefeit ist". Natürlich sei es schwer, von einem Wunschdenken Abschied zu nehmen, von der Sonderstellung der kleinen, aber feinen Schweiz inmitten einer tumben europäischen Gemeinschaft. Das Bild von einer starken, sich selbst -> genügenden Eidgenossenschaft sei aber nicht nur falsch, sondern sogar hochgefährlich. Und tragisch wäre es, wenn das Schweizervolk aufgrund eines verzerrten Geschichtsbildes am 6. Dezember seine Entscheidung träfe.

Vielleicht könnten wir auch in der Art des Nachdenkens von der Schweiz als Muster manchmal etwas lernen.

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