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Wo geht's denn eigentlich lang?

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Jubiläen werden jetzt schon im Einjahresrhythmus gefeiert. Insofern war die Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer vor zwei Jahren ein Gedenken mit Verzögerungseffekt. Es hieß immer, daß nun die Mauer in den Köpfen noch abgebaut werden müsse, indessen aber entstehen neue Mauern, und die Mauer zwischen Ost und West sei „höher als je zuvor", wie „Der Spiegel" deutsche Jugendforscher erkunden läßt.

Vor allem die Jugend in der einstigen DDR schwanke zwischen Selbstmitleid und Heimweh nach früher und Wut auf das allzu westliche Einheitsdeutschland.

Eine Leipziger Maturantin bemerkte in einem Interview, früher habe man gewußt, wo es langgeht. „Und einen sicheren Job hatte man auch." Ein Maturant beklagt, daß angeblich Ethik und Philosophie nicht mehr auf dem Lehrplan stünden und eine andere junge Deutsche aus den neuen Bundesländern kommt zu folgendem Schluß: „Entweder die Geborgenheit oder die Freiheit, wahrscheinlich kann man nicht beides haben."

Was das wohl für eine Geborgenheit war, deren Hüter es nicht gestatteten, daß die Umsorgten, wenn auch vielleicht nur kurz, einmal der Geborgenheit entkamen?

Und um welche Freiheit oder besser um welche Freiheiten geht es denn jetzt?

Wie antiquiert scheinen doch alte Liberale zu sein, die heute noch immer von der Freiheit reden, indes die Angst vor den Folgen dieser Freiheit ständig wächst.

Ein Ralf Dahrendorf war doch tatsächlich der Meinung, daß die „dumpfe Eintönigkeit, das Fehlen jeder Aussicht auf individuelles Vorankommen" eine Spielart des Sozialismus sei, die sich damit zum Feind der Freiheit mache.

Und Dahrendorf hat natürlich recht. Die Frage ist nur, was wir selbst im Westen aus dieser unserer Freiheit gemacht haben -bis hin zu der Pervertierung, daß Geschwindigkeitsbeschränkungen als Einschränkung dieser Freiheit empfunden werden, von der niemand mehr genau weiß, was sie ist und wozu sie da ist.

Der fragwürdigen Geborgenheit in den einstigen Staaten des Ostblocks steht eine Scheingeborgenheit gegenüber, die uns alle möglichen Versicherungsanstalten gewährleisten wollen. Und aus der Unfreiheit kommend, finden die Bürger der . exkommunistischen Länder in uns keine guten Führer zum Wesen der Freiheit. Sie wußten, wo's langgeht in ihrem Einbahn-Pferch. Wir wissen vor lauter Möglichkeiten nicht mehr wo's langgeht.

Ein Zeichen von Freiheit aber ist das nicht unbedingt.

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