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Zehn Jahre schon

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Es war gegen Ende der fünfziger Jahre. Auf einer nächtlichen Fahrt hielten wir an und stellten den Wagen, um besser lauschen zu können, an den Straßenrand. Denn aus dem Autoradio drang die Stimme der Edith Piaf und wir hörten zum ersten Male ihr „Non, je ne regrette rien“.

Es war zu Beginn der sechziger Jahre, auf einer Reise durch Südfrankreich, wir saßen in einem Schlemmerlokal (das sind sie dort alle) und die Gespräche ringsum übertönten den Lautsprecher des laufenden Fernsehapparates. Mit einemmal aber wurde es still. Kein Glas klirrte mehr. Auf dem Bildschirm war die Piaf erschienen, stellte einen der zahllosen von ihr protegierten Chansonjünglinge vor, behauptete, er sei ungemein begabt und tat schließlich, worauf alle gewartet hatten: sie sang. Wieder einmal „Milord“ oder „La Foule“ oder „La Vie en rose“ — das war vollkommen gleichgültig, solange sie sang, sich verströmte, immer, wie es

schien, bis zur letzten Grenze ihrer Kraft, bis zur Erschöpfung konzentriert, immer überwältigt von Wort und Klang. Das nämlich war ihr Geheimnis, daß sie in jedem Augenblick war, was sie eigentlich zu sein nur vorgeben sollte, daß sie in jedem Augenblick ihre letzte Reserven verbrauchte. Damals erkannte man bereits ihre verkrüppelten Hände, ihr gealtertes Gesicht, das bei jedem Worte der Trauer häßlich, bei jedem Wort des Glücks schön wurde.

Etwas später heiratete sie wieder einmal einen Dunkelhaarigen, der noch jünger war als seine Vorgänger gewesen waren. Und kurz darauf starb sie. Und das alles ist jetzt schon zehn Jahre her. Der ORF erinnerte daran in einer Gedenksendung, die zwar schon länger zurückliegt, die aber seither in der Erinnerung haften blieb. Ging es dabei doch, wenn gleich eingangs das Begräbnis der Edith Piaf gezeigt wurde und die weinende, alle Sperren durchbrechende Menge von 40.000 Parisern — ging es dabei doch um ein Phänomen, das französischer war als vieles, was man hierzulande für französisch hält. Ist es doch, als wären die Eltern der Piaf, dieser Artist und diese Straßensängerin, von Toulouse-Lautrec erdacht oder zu-mindest karikiert worden. Daß Edith auf dem Straßenpflaster, unter Assistenz von Polizisten zur Welt kam, läßt sich als Motiv ohne weiteres in einem Band Zola nachschlagen; und einer der bö sen Novellen Maupassants fast wortgetreu entnommen ist die biographische Tatsache, daß Freudenmädchen ihre Erspar nisse opferten, damit Edith, nach einer schweren Krankheit er blindet, nach Lisieux fahren und am Grabe der Kleinen Heili gen Therese beten könne -prompte Heilung dortselbst und innige, wenn auch chaotische Religiosität der Geheilten bis ans Lebensende mitinbegriffen.

Für die Pointe, daß die Piaf eine Frau war, die lange Zeit von Männern gekauft worden war, bis sie den Spieß umdrehen und sich ihrerseits Männer kaufen konnte, findet sich zweifellos ein Parallelfall irgendwo in der Co medie Humaine Balzacs; nur, daß die gekauften Männer sich später allesamt als große Begabungen entpuppten, charakteri siert den Sonderfall. Nein — „je ne regrette rien!“ — die Piaf bedauerte nichts, sie begann so zusagen täglich und mit jedem Lied „ä ziro“, bei Null. Dieses Unerbittliche und Totale war das Französische an ihr, und nur die Stimme, diese schrille, samtige verzweifelte, erschütternde, flehende, glühende Stimme gehört der Welt. Bis heute. Für immer.

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