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Entwurf einer christlichen Staatsphilosophie

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In der großen Menge politischer Schriften in deutscher Sprache, die uns das letzte Jahr beschert hat, ist das Werk eines Oesterreichers weithin besonders aufgefallen: Rene Mareks Buch: „Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat — Recht als Maß der Macht — Gedanken über den demokratischen Rechts- und Sozialstaat“, 548 Seiten (mit einem ausführlichen Personen- und Sachregister, umfangreichem Literaturverzeichnis und einem Anhang. Springer-Verlag, Wien. Preis 288 S) Schon der Titel dieser Schrift klingt herausfordernd — ein Kampfruf im politischen Streit —, und wie der Titel, der die Sache des Verfassers bewußt überspitzt, wirkt der Inhalt des Buches: ei fasziniert und verwirrt, er provoziert und verlangt klare Stellungnahme gerade dort, wo sich die politische Theorie der Gegenwart gewöhnlich hinter Tabubegriffe zurückzieht.

Nicht nur wegen des für eine solche Schrift ungewöhnlichen Umfangs — mehr als 500 Seiten —, sondern auch wegen seines Gehalts könnte man das Buch von Marcic eine Art Summa der politischen Wissenschaft nennen, in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick und unter einem bestimmten, klar herausgestellten Aspekt. Auf eine solche Gesamtschau kommt es in der politischen Wissenschaft an, die, wie Marcic sie betreibt, notwendig auf philosophischer Erkenntnis baut. Jedes Philosophieren und alle Politik sind für Marcic auf die objektive Seinsordnung hin ausgerichtet. „Das neuzeitliche Wertdenken, das heute noch stark wirkt, trägt unverkennbar das Mal des Subjektivismus“ (S. 155); ihn zu überwinden und wieder zur objektiven Seinsordnung zurückzufinden, ist für Marcic die große geistesgeschichtliche Aufgabe unserer Zeit.

In der objektiven Seinsordnung sind Sein und Sollen eins. Erst der Subjektivismus trennt „die Welt in eine Region des Seins und eine Region des Sollens auseinander ... Das Sollen tritt in den Gegensatz zum Sein. Die modernen Wertlehren sind, in ihrem letzten Zusammenhang verstanden, nichts anderes als eine Art Beglaubigung der Weltspaltung. Auf der Spaltung zwischen diesen beiden Bezirken, zwischen Sein und Sollen, baut die moderne Rechtswissenschaft auf. Je mehr das Rechtsdenken sich auf das Sollen, auf sogenannte Werte stützt, desto tiefer gleitet es in einen extremen Positivismus ab“ (S. 56). In der ihr folgenden Existentialphilosophie der Gegenwart sieht Marcic eine Rückkehr zum Objektivismus — oder mindestens den Ansatz zu einer solchen Rückkehr; Heidegger wird dabei im Sinne Max Müllers und Johann Baptist Lotzens

„christlich“ interpretiert. Im Mittelpunkt des Philosophierens sowohl wie der Politik steht für Marcic der Mensch als Person — in seiner Würde und vor allem in seiner Freiheit. Sie ist für Marcic „das Grundgesetz des Seins und aller Seienden, in denen das Sein sich manifestiert. Auf der Seite des Seins ist sie Geben, auf der Seite des Menschen ist sie Offensein. In den Bezirken der sozialen Daseinsweise des Menschen, in allen formalen Ordnungen, sei es politischer, sei es rein rechtlicher oder sei es kirchlicher Natur, ist Freiheit der Raum, in dem der Mensch als Mensch sich bewegt und entfaltet“ (S. 105) Der Sinn des menschlichen Lebens „liegt in der freiwilligen Hingabe an die Ordnung des Seins und in der freiwilligen Ueber-nahme des aus ihr hervorgehenden Auftrags“ (S. 314). „Der freie Einsatz des einzelnen“ iist für Marcic „die Zauberformel, die den Heilprozeß“ des modernen Staates einzuleiten vermag (S. 423).

Auf dieser Grundlage — ausgerichtet auf das Sein und auf den Menschen als Person bezogen — baut Marcic seine eigens Rechts philosophie auf. Er teilt „die Auffassungen vom Recht in zwei große Gruppen .. . :

1. In Auffassungen, die objektivgericUtet sind und vom Sein herkommen,

2. in Auffassungen, die subjektorientiert sind und zum Sollen hinneigen“ (S. 221).

Er selbst bekennnt sich zu der erstgenannten Sicht des Rechts: das Recht ist für ihn „seiner Herkunft und seinem Wesen nach Sein, nicht Sollen; nur das gültige Recht ist richtig und nur das richtige Recht ist gültig“ (S. 124). „Das Recht ... ist die Ordnung des Seienden im Ganzen“ (S. 135); als solche ist es „absoluten Charakters, seinsgemäß erfordert es nicht unbedingt den Schutz des Zwanges und der Gewalt“ (S. 161).

Marcic bekennt sich zum Natur recht: „Wenn Recht, gesagt wird, dann ist“ für ihn „präpositives, überpositives, translegales Recht: Natur-recht, gememt“, freilich fährt er — und meines Erachtens mit Recht — unmittelbar fort: „infolgedessen (sie!) könnte man mit dem Ausdruck ,Natur-recht' sehr* sparsam umgehen“ (S. 126). „Je seltener der Notfall eintritt, in dem der Richter das Natur-recht heranzieht, desto zuverlässiger ist der Ausweis, daß es umfassend und tief in die gesetzte Ordnung des Staates hineinwirkt“ (S. 192).

Gerade weil sich Marcic zum Naturrecht bekennt und alles Recht als vom Naturrecht beseelt erfaßt, liegt ihm daran, das Recht klar von der Gerechtigkeit und von der Ethik abzugrenzen.

Marcic selbst bezeichnet in den Ueberschriften der ersten beiden Teile seines Buches Philosophie und Rechtsphilosophie als den „Hintergrund“ und den „Grund“ der S t a a t s t h e o r i e, die er im dritten Teil seines Werkes in den „Vordergrund“ stellt. Der Staat ist für Marcic „eine Institution des Naturrechts. Menschsein heißt Aufeinander-angewiesen-Sein: Das ist die Solidarität. — Die Hilfe der Gemeinschaft setzt dort ein, wo die Kraft des Menschen nicht mehr hinreicht. Das ist die Subsidiarität“ (S. 303). Der Solidaritätsgedanke und das Sub-sidiaritätsprinzip, beide in einer Wirkeinheit wesenhaft verbunden, sind für Marcic die Grundfesten des Staates. „Der Sinn der Gemeinschaft . .. erschöpft sich darin, daß sie die Voraussetzungen für den freien Vollzug der Persönlichkeit schafft“ , (S. 314). Eine der vornehmsten und wesentlichen Aufgaben des Staates ist daher in der Staatslehre Mareks die Sicherung der personalen Grundrechte, jener Grundrechte, die nach ihm „den vornehmsten Teil der objektiven Rechtsordnung“ bilden — „nicht wegen ihrer Subjektivität, ondern weil der Mensch das Wesen ist, in dem sich das Sein manifestiert. Wer ein Grundrecht verletzt, verletzt die objektive Ordnung des Seienden im Ganzen“ (S. 325). „Das ureuropäische Moment der Bindung des Staates an das Recht, das als Grenze der Macht wirkt“, so lesen wir an anderer Stelle, „wird erst dann wieder ganz zum Vorschein kommen können, wenn man ... einsieht, daß die Grundrechte ... der unmittelbare Ausfluß des Rechts als der Ordnung des Seienden im Ganzen sind, die wir lex naturae nennen können und die der lex aeterna entspringt. Wenn in unser aller Bewußtsein die Wirklichkeit der Grundrechte eindringt, über die sich weder die Regierung noch das Parlament noch das souveräne Gesamtvolk hinwegzusetzen vermögen: dann ist der Zirkel des Positivismus, der nihilistische Elemente birgt, durchbrochen“ (S. 294).

Marcic sieht — so scheint es zumindest — die Aufgabe einer Staatstheorie weniger darin, den Staat so, wie er ist, zu beschreiben, als vielmehr den Staat so darzustellen, wie er sein soll. Er vergleicht diesen „idealen Staat“ mit dem geschichtlichen von heute: Er mißt diesen „Staat der politischen Realität“ an seinem Idealbild und sucht in jenem — im „realen“ Staat — Züge des idealen aufzufinden. Mitunter liest sich das Werk von Marcic wie eine Staatsutopie unserer Zeit. Der ideale Staat, den Marcic zeichnet, läßt sich zunächst negativ bestimmen. Er erhebt keinen wie immer gearteten Totslitätsanspruch an den Menschen. Der ideale Staat von Marcic ist Demokratie — freilich nicht im Sinn einer Formaldemokratie, deren „letzte Konsequenz“ für ihn die Diktatur ist (S. 364). Demokratie bedeutet für Marcic nicht bedingungslose Verwirklichung einer volonte generale, nicht absolute Herrschaft der Volksvertretung oder der Mehrheit. Vier Elemente kennzeichnen für Marcic, wenn wir ihn recht verstanden haben, die „Höhe des materialrechtlichen Grades (siel) einer Demokratie“ (S. 340): 1. Die Beschränkung der Macht — jeglicher Macht — durch ein als „objektive Ordnung des Seienden im Ganzen“ verstandenes, dem Staate „vorgegebenes“ Recht; 2. die dadurch gewährleistete personale Freiheit des einzelnen auch dem Staat gegenüber, eine Freiheit, die gleichzeitig auch die Unabhängigkeit derer bedeutet, bei denen die Entscheidung im Staat liegt; 3. das Vertrauen, das der einzelne Staatsbürger — das die „Oeffent-lichkeit“ — dem entgegenbringt, der im Staat entscheidet (S. 340); und 4. die gegenseitige Kontrolle der im Staate letztentscheidenden Instanzen.

Echte, materiale Demokratie sieht Marcic nur dort verwirklicht, wo eine Kontrolle der letztentscheidenden Instanzen sichergestellt ist: Im idealen Staat von Marcic wird die Macht durch das Recht, der Gesetzgeber durch den Richter und die volonte generale, in deren Namen „kommunistische und faschistische Herrschaften, errichtet“ wurden (S. 285), durch jene Ratio des einzelnen kontrolliert, die sich im Gehege der Freiheit entfaltet und in der Popularklage und im Widerstandsrecht verwirklicht, mit dem „Europa steht und fällt“ (S. 93). „Eine Mitschuld für das politische Geschehen im Staat setzt die Mitkontrolle voraus, ist rechtlich nur dann denkbar, wenn auch jedermann die Möglichkeit besitzt, die Kontrolle ... auszuüben“ (S. 256). „Daß eine wirksame Kontrolle verbürgt wird“ (S. 338), ist für Marcic der — vielleicht einzige und jedenfalls primäre Sinn der Gewaltenteilung. Der Kontrolle des Gesetzgebers durch den Richter mißt Marcic dabei besondere Bedeutung zu.

Der Richter steht, davon ist Marcic überzeugt, dem Recht am nächsten: „Die Rechtsprechung ist die eigentümlichste Form des Rechtsphänomens“ (S. 126). Der ideale Staat von Marcic bedarf eines idealen Richters.

Man würde Marcic sicher unrecht tun, wollte man sein Werk damit abtun, daß man von einem bloßen Wiederaufleben der Freirechtsschule in christlich-naturrechtlicher Aufmachung spricht; Marcic bietet — wie wir hoffen, gezeigt zu haben — mehr. In seinen Thesen über Stellung und rechtsschöpferische Aufgabe des Richters trifft er sich allerdings weitgehend mit Gedanken, die H. Kantorowicz und E. Fuchs, die Väter der Freirechtsbewegung, schon zu Beginn dieses Jahrhunderts ausgesprochen haben. Marcics Verdienst ist es jedoch, diese Gedanken in den größeren Rahmen einer Gesamtschau sowohl des Wesens des Rechts wie der Situation unserer Zeit gestellt und zur Grundlage einer Doktrin des idealen Staates gemacht zu haben. Wenn Marcic in seiner Lehre vom idealen Staat vom Richter spricht, denkt er in erster Linie — wenn auch keineswegs nur — an den Verfassungsrichter.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist für Marcic notwendig unvollkommen, solange nicht jeder Staatsbürger in der Popularklage vor dem Verfassungsgericht die Verletzung der Rechtsordnung durch den Gesetzgeber oder die vollziehende Gewalt rügen kann. Die Popularklage gehört für Marcic wesenhaft zur Verfassungsgerichtsbarkeit; sie „bildet gleichsam den Schlußstein im Gefüge des demokratischen Rechtsstaates“ (S. 255). Sie kann nicht durch die Verfassungsbeschwerde dessen, der sich in seinen (I) Rechten verletzt fühlt, ersetzt werden. Dem Verfassungsgerichtshof kommt im idealen Staat von Marcic eine Aufgabe zu, die zu erfüllen in der politischen Realität in der Regel dem Staatsoberhaupt aufgegeben ist — wenn auch nicht jedes

Staatsoberhaupt dieser Aufgabe gerecht wird. „Souverän ist das Recht, und durch das Recht ist das Verfassungsgericht der Supremus im Staat“ (S. 351). .

Wir sprachen von dem Werk von Marcic als dem Versuch einer Summa der politischen Wissenschaft und nannten seine Staatstheorie eine moderne Staatsutopie. Wie immer man im einzelnen zu Marcic Thesen stehen mag: auch ein skeptischer Kritiker muß anerkennen, daß Marcic in seinem Werk eine wissenschaftliche Leistung vollbracht hat, die Anerkennung verdient. Der Katholik versucht auch heute nur allzu oft, das Phänomen des Staates der Gegenwart in Begriffen zu erfassen, die das Mittelalter geprägt und die ein gutgemeinter popularisierender Neothomismus zum Teil ihres Inhalts entleert hat. Es ist eine der vordringlichsten und bis jetzt noch nicht zufriedenstellend gelösten Aufgaben einer christlichen Staatsphilosophie, das, was heute vom christlichen Staatsbegriff noch übrig ist, zu überprüfen, um zu einem neuen Staatsbild zu gelangen. Das Werk von Marcic bietet wertvolle Ansätze. Der Autor bietet keine endgültige Lösung des Problems: doch uns scheint, als weise er immerhin einen Weg. um einer solchen Lösung ein wenig näher zu kommen. Unter diesem Aspekt mag es erlaubt sein, sein Buch mit dem Werk eines Publizisten der Neuen Welt zu vergleichen, den er oft zitiert — und von dem ihn sicher in der Grundhaltung viel unterscheidet: mit Walter Lippmanns vieldiskutierter Philosophia publica. Beide hat die gleiche Erkenntnis veranlaßt, ihre Gedanken zur Problematik des Staates der Gegenwart öffentlich zur Diskussion zu stellen — eine Erkenntnis, die Marcic in die Worte gefaßt hat: „Daß wir wenig wissen, was Recht ist, und infolgedessen nicht zur Gerechtigkeit neigen und nicht das rechte Verhältnis zu den Dingen der Umwelt noch zu unseren Nächsten zu finden vermögen, das ist vielleicht ein noch erregenderer Tatbestand als die Atombombe“ (S. 182). Die Atombombe ist — es sei uns erlaubt, dies hinzuzufügen — nur die notwendige Folge dieses fehlenden Gefühls.

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