"Die Demokratie verarmt!"

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Edgardo Lander, Soziologe und früherer Regierungs-Berater in Caracas, bedauert Chávez Wende zu einem überwunden geglaubten Sozialismus.

Die Furche: Herr Lander, Präsident Chávez redet viel vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Nun hat er die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei angekündigt und will sich unbegrenzt wiederwählen lassen. Wohin steuert Venezuela?

Edgardo Lander: Viel hängt davon ab, wie die venezolanische Gesellschaft auf diese Vorstöße reagiert und ob darüber eine offene Debatte stattfindet. Die unendliche Wiederwahl oder die Art und Weise, wie die Einheitspartei propagiert wird, ähneln allzusehr dem alten, real existierenden Sozialismus. Eine der schönsten Erfahrungen der letzten Jahre war ja gerade, dass das venezolanische Projekt nicht an den Sozialismus des 20. Jahrhunderts anknüpfte.

Die Furche: Sondern?

Lander: Es ist offen für Experimente, für Vielfalt, es hat seine Wurzeln in der Geschichte Lateienamerikas, bei Bolívar, im Urchristentum, in den Kämpfen der indigenen Völker. Es ist also heterogen und sehr reichhaltig, etwa in den Organisationen der Gesundheits-und Bildungskomitees, den Kämpfen der Bauern um das Land. Wenn die Art und Weise der jetzigen Ankündigungen diese Experimente beschneiden oder bremsen sollte, sie in ein Einheitsmodell gepresst würden, wäre das eine außerordentliche Verarmung des demokratischen Prozesses.

Die Furche: Welchen Reaktionen gibt es auf Chávez Ankündigungen?

Lander: Es gibt bedingungslose, unkritische Reaktionen, Leute, die sich der Debatte verweigern. Aber viele Politiker, Intellektuelle und Sozialaktivisten sagen auch, dass man nicht alles über einen Kamm scheren darf.

Die Furche: Wie bewerten Sie das neue Kabinett? Umringt sich Chávez noch mehr mit Gefolgsleuten?

Lander: Im neuen Kabinett gibt es niemanden mehr mit einer politischen Geschichte vor Chávez, renommierte Leute wie die ehemaligen Minister Ali Rodríguez, José Vicente Rangel oder Aristóbulo Istúriz, die ihm etwas entgegensetzen könnten. Das ist schädlich und trägt dazu bei, dass es keine Debatte gibt.

Die Furche: Die auch durch den Entzug von privaten Sendelizenzen beschnitten wird.

Lander: Da muss unterschieden werden: Einerseits halte ich es nicht für zulässig, dass ein wichtiger Teil der Sendefrequenzen über Jahrzehnte hinweg in den Händen privater Monopole ist, ohne dass man daran etwas ändern dürfte. Lange war ja auch in Europa das Radio und das Fernsehen in öffentlicher Hand. Andererseits hat es Venezuela noch nicht verstanden, ein echtes öffentliches Fernsehen zu entwickeln. Das sieht man am wichtigsten Regierungskanal, der ist wie ein Spiegelbild der Oppositionssender, die in ständiger Konfrontation mit der Regierung stehen. Wenn eine Konzession ausläuft, ist es legitim, eine Debatte darüber zu führen, was am angebrachtesten ist. Aber wenn die Entscheidung über etwas, was allen gehört, einfach verkündet wird, erscheint das als Ungerechtigkeit. Dieses Vorgehen ist also kontraproduktiv.

Die Furche: Warum verbündet sich Chávez mit zweifelhaften Gestalten wie dem Iranischen Präsidenten?

Lander: Das liegt an einer zu einseitigen Sichtweise der Weltpolitik. Weil man die imperiale Politik der USA als die größte Bedrohung sieht, werden Allianzen mit den Feinden der USA geschmiedet. In manchen Situationen mag das sinnvoll sein, aber die Ziele des iranischen Regimes haben mit jenen Venezuelas ziemlich wenig gemeinsam.

Die Furche: Die Ziele vielleicht nicht, aber Venezuela so wie der Iran können ihre Politik auf die Erdöleinkünfte stützen.

Lander: Das ist unser Widerspruch. Alles, was in Venezuela in den letzten Jahren passiert ist, die Sozialprogramme, die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit, die internationale Politik, hängt an den Erdöleinkünften. Es gibt eine sehr starke Spannung zwischen dieser Tatsache und der Gewissheit, dass andere Konsumgewohnheiten und eine andere Energiepolitik nötig sind. Unser Lebensstil ist nicht nachhaltig, wir rasen auf die Katastrophe zu.

Das Gespräch führte Gerhard Dilger.

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