"So unvorhersehbar wie noch nie"

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Wenige Wochen vor den Triple-Wahlen in Belgien ist die Kluft zwischen den Fraktionen größer als je zuvor.

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Wenige Wochen vor den Triple-Wahlen in Belgien ist die Kluft zwischen den Fraktionen größer als je zuvor.

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Der Politologe Dave Sinardet über das belgische Super-Wahljahr. Dave Sinardet ist Professor an der Freien Universität Brüssel. Zu seinen Spezialgebieten gehören Nationalismus und Föderalismus.

DIE FURCHE: Was bedeuten diese Dreifach-Wahlen?

Dave Sinardet: Natürlich ist das besonders wichtig. Wobei die europäische Ebene hier in Belgien nicht so im Vordergrund steht wie in anderen Ländern, weil zeitgleich eben auch die föderalen und regionalen Wahlen stattfinden, und da steht sehr viel auf dem Spiel. Eine Partei, die schlecht abschneidet, kann nicht auf eine baldige neue Chance auf einer anderen Ebene setzen. Das macht es umso wichtiger, es nun in die Regierung zu schaffen. Die Kommunalwahlen waren auch gerade unlängst im Oktober. Normalerweise wird also erst wieder 2023/24 in Belgien gewählt. Die EU-Wahlen haben auf die belgischen Machtverhältnisse nicht so viel Einfluss. Wobei: mit Verhofstadt, dem jetzigen Vizepremier Kris Peeters und Geert Bourgeoi, dem flämischen Ministerpräsidenten, stehen drei sehr namhafte Politiker zur Wahl.

DIE FURCHE: Das letzte Jahr endete ja sehr turbulent. Wie sehen Sie die politische Dynamik derzeit?

Sinardet: Die Wahlen erscheinen mir so unvorhersehbar wie noch nie. In den vier Monaten seit den Kommunalwahlen hatten wir die Krise um den Marrakesch-Vertrag, den Fall der Regierung, derzeit die Klimaproteste der Schüler, und nun kommen noch die gewerkschaftlichen Proteste dazu. Es ist eine ganz andere Situation. Die N-VA wollte nach der Marrakesch-Krise mit dem Thema Migration in den Wahlkampf gehen, aktuell steht eher das Klima im Mittelpunkt. Was sich bis Mai aber wieder ändern kann.

DIE FURCHE: Ein Thema, was in den Vordergrund rücken könnte, ist die komplexe Beziehung der Sprachgruppen in Belgien. Die N-VA forderte neulich mal wieder ein konföderales Modell.

Sinardet: Das muss man nuancieren. Ja, die N-VA hat eine Konferenz zum Thema gehalten, und sie wollen, dass Flandern mehr Autonomie bekommt. Aber unter den frankofonen Parteien finden sie dafür keine Partner, und von den anderen flämischen fragt auch niemand besonders lautstark danach. Grüne und Liberale denken sogar über mehr föderale Elemente nach (in den letzten 50 Jahren wurde Belgien stark regionalisiert, red.). Die N-VA will das, weil es ihr Kerngeschäft ist. Aber den anderen bereitet das Thema keine schlaflosen Nächte.

DIE FURCHE: Die Regierung von Charles Michel, die im Dezember fiel, war die erste, die nicht an beiden Seiten der Sprachgrenze eine Mehrheit vertrat. Gibt es so etwas demnächst häufiger?

Sinardet: Vor 2014 war das tatsächlich undenkbar. Es ist gut, dass diese Koalition geschlossen wurde, denn es ist leichter, eine Regierung auf Basis inhaltlicher Übereinstimmungen aufzustellen. Zumindest sehe ich darin nicht notwendigerweise eine Blockade. Sonst hat man eigentlich immer eine rechte flämische Partei und eine linke frankofone, das macht die Sache schon mal schwierig.

DIE FURCHE: Aber untergräbt das nicht die Glaubwürdigkeit einer Regierung und auf Dauer auch des politischen Systems, wenn es, wie das belgische, auf einer nach Sprachgruppen getrennten Vertretung basiert?

Sinardet: Nein, nicht zwangsläufig. Aber natürlich sollte die Regierung nicht dreimal hintereinander auf derselben Seite nur eine Minderheit der Abgeordneten präsentieren.

DIE FURCHE: Für diese Woche sind in Belgien große Gewerkschafts-Proteste angekündigt. Wird das hinsichtlich des Wahlkampfs noch einen neuen Einfluss haben?

Sinardet: Es wird nicht unbedingt eine neue Dynamik bewirken, könnte aber der sozial-ökonomischen Debatte wieder Schwung geben. Die Gelbwesten-Proteste, die im frankofonen Belgien kulturell bedingt stärker waren als in Flandern, sind inzwischen abgeflaut. Ich denke aber, dass Migration, Klima und Kaufkraft im Wahlkampf wichtige Themen werden.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie das Klima bezüglich der EU in Belgien?

Sinardet: Belgien war immer eines der deutlich pro-europäischen Länder. Der Vlaams Belang war da eine Ausnahme, aber er stand auch schon immer außerhalb der traditionellen Politik. Die N-VA hat sich, was das angeht, zuletzt entwickelt. Sie ist nationalistischer geworden. Selbst nennen sie das "Euro-Realismus". Sie schauen auch, welche Befugnisse man zurückholen könnte - wobei das natürlich bedeuten würde, Belgien zu stärken.

DIE FURCHE: Die kommende EU-Wahl gilt als schicksalhaft, und zum Teil werden damit ziemlich finstere Szenarien verbunden. Wirkt sich das eigentlich auf den belgischen Kontext aus, wenn sich der Wahlkampf zeitlich so überschneidet?

Sinardet: Nicht unbedingt. Wir sind zu sehr mit unserem eigenen Bauchnabel beschäftigt, mit den föderalen und regionalen Wahlen. Mit dem Verhältnis zwischen den Sprachgruppen, und eben Themen wie Migration, Klima und sozio-ökonomischer Lage.

DIE FURCHE: Und umgekehrt? Könnte sich das auf Europa auswirken, wenn Belgien gerade als EU-Hauptstandort je nach Wahlausgang womöglich politisch instabiler wird?

Sinardet: Das kann durchaus sein, aber ich halte es für nicht besonders wahrscheinlich. Ich denke, dass Katalonien da eine andere Dimension ist, denn das war eine große konstitutionelle Krise. Aber auch die hatte letztendlich nicht so viel Einfluss.

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