Dass die flämischen Nationalisten die Parlamentswahlen gewinnen, ist klar. Was aber will die "Neu-Flämische Allianz“ eigentlich? Eine Wahlkampf-Reportage aus Flandern.
Am Schluss steht das Glaubensbekenntnis. Als alle Reden gehalten sind, erhebt sich das gesamte Auditorium, knapp 1300 Menschen auf drei Etagen. Rücken werden durchgedrückt, rechte Hände legen sich voll Pathos auf Brustkörbe, und dann dröhnt es durch das Konzertgebäude, als gelte es das Leben: "Sie werden ihn nicht zähmen, den stolzen flämischen Löwen, solange er kratzen kann, solange er Zähne hat, solange ein Flame lebt.“ Eine Kampfansage, zweifellos: die "Neu-Flämische Allianz“ ist bereit.
Es ist ein frühlingshafter Sonntagmorgen. In aller Früh haben sich Mitglieder und Anhänger der größten Partei Flanderns auf den Weg gemacht, aus allen Winkeln der Region, die sie so gern als unabhängigen Staat sähen. Im "wunderschönen Brügge“, hieß es auf der Einladung, läutet die N-VA die heiße Phase ein, die Kampagne für das, was in Belgien als "Mutter aller Wahlen“ bekannt ist. Zeitgleich mit dem europäischen wird auch das belgische Parlament gewählt, und die N-VA wäre nicht die N-VA, hätte sie nicht ein vollmundiges Ziel ausgegeben: Belgien soll eine Konföderation werden, bestehend aus starken Regionen mit maximalen Befugnissen.
"Nette Nationalisten von nebenan“
Um dieses Ziel herum hat man ein Wahlprogramm namens "Plan V“ gebastelt, was für Vlaanderen steht, aber auch für das Victory-Zeichen, das die Kandidaten auf den Wahlplakaten formen. Anlass dazu haben sie: keine Umfrage, die der Partei nicht einen Erdrutschsieg vorhersagt, deutlicher noch als jener von 2010. Nur auf dem offiziellen Plakat zeigt ein kleines Mädchen mit Zahnlücke das Victory-Zeichen. "Seht her“, sagt das Bild, "wir sind nicht radikal wie der Vlaams Belang. Wir sind die freundlichen Nationalisten von nebenan, wir haben für jeden etwas im Angebot. Die einzige Volkspartei Flanderns“, nannte der alte Haudegen Gert Bourgeois die N-VA zur Eröffnung.
Das Wahl-Programm, soeben von den Kandidaten auf einem breiten Sofa präsentiert, ist darum auch ein bisschen wie eine Jukebox. Es gibt mitfühlenden Konservatismus in Balladenform: Höhere Mindestrente und mehr Sozialhilfe für die, die wirklich nicht arbeiten können. Markt-Verehrung im Mainstream-Format: weniger Lohnkosten und Entkoppelung von Lohnentwicklung und Preisniveau. Zum Feuerzeug-Schwenken mag der Zugang zur "besten Bildung der Welt“ taugen, und zwar für alle Kinder, egal ob in Flandern geboren oder nicht. Und dann doch noch eine Prise Vlaams Belang, die Böhsen Onkelz der belgischen Politik: nicht-flämische Gefängnisinsassen sollen abgeschoben werden.
Je näher der Inhalt dem Kerngeschäft kommt, dem latenten Zwist der belgischen Sprachgruppen, desto lauter wird geklatscht und gejohlt. Etwa, als Jan Jambon sagt: "Den Flamen ist nicht gedient mit noch einer Staatsreform!“ Der Fraktionsvorsitzende spielt auf einen Prozess an, der den früheren Zentralstaat Belgien seit einem halben Jahrhundert eingreifend verändert hat.
Das Ziel: Die Konföderation Belgien
Erst 2012 wurden erneut einige Befugnisse an die Regionen Wallonien, Flandern und Brüssel übertragen - auf Druck aus dem wohlhabenden Flandern, von dessen Transferzahlungen das frankofone Belgien abhängig ist. Nach sechs Runden Regionalisierung, so das Fazit, ist die Zeit reif für eine Konföderation.
Und nach anderthalb Stunden Vorspiel betritt in Brügge der flämische Messias die Bühne. Bart De Wever, der Spitzenkandidat, unter dem die N-VA in zehn Jahren von einer Splitter- zur stärksten Partei des Landes wurde. Entschlossen umgreift er mit beiden Händen das Pult, als sei es ein Steuer, und die Anhänger lassen sich nur zu gerne von ihm kutschieren. Mehr als 99 Prozent bestätigten ihn 2011 als Vorsitzenden. Und De Wever weiß, welche Knöpfe er zu drücken hat. "Jetzt oder nie“, schärft er dem Publikum ein. Die Wirtschaftsreformen werden schmerzhaft, doch: "die N-VA lässt niemanden im Stich“. Der Applaus nach seiner Rede - ist das nur euphorisch oder schon entrückt?
"Einer wie Bart De Wever wird nur alle 100 Jahre geboren“, sagt Rogier Bellemans. "Weil er ehrlich ist, die Dinge benennt und für alle verständlich macht.“ Bellemans hat fünf Stunden Zugfahrt auf sich genommen, und allein schon für De Wevers Rede habe es sich gelohnt, findet der Rentner. Er und seine Frau Rita Peels tragen gelbe Jacken, die Farbe Flanderns und der N-VA. "Heute ist das ein Statement“, lachen sie.
Es ist früher Nachmittag, als sich die Kongress-Teilnehmer in Bewegung setzen. Brauereibesichtigung, Fahrradtouren, Restaurantbesuche - der soziale Faktor spielt bei der N-VA immer eine Rolle. Die Gruppe um Rogier Bellemans und Rita Peels lässt sich von einem ortskundigen Parteimitglied das Zentrum Brügges zeigen. Wie aber steht es nun eigentlich um das unabhängige Flandern? Hat die Partei das inzwischen aufgegeben? "In unseren Statuten steht klar, dass dies das Ziel ist“, so Bellemans. Doch weil das noch nicht mehrheitsfähig ist, ist der Konföderalismus ein Zwischenschritt.“
Streben nach Unabhängigkeit
Zur Gruppe gehört auch der große, rundliche Berner Sennenhund des Ausflugsleiters. Geduldig folgt er seinem Herrchen über das berühmte Kopfsteinpflaster, während die streitbaren Flamen Geschichten über Klöster, Kirchen und Krankenhäuser lauschen. Der Hund heißt tatsächlich "Fidel“ - ist das nicht ein bemerkenswerter Name für eine konservative, nationalistische Partei? Die Frage trifft nicht zu, versichern die Umstehenden. "Wir sind progressiv, wir wollen etwas Neues.“
Fidel selbst kann sich für die inhaltliche Debatte wenig erwärmen, er hat andere Bedürfnisse. Dass just heute ein gelbes N-VA-Shirt um seinen massigen Leib spannt, kann daran nichts ändern. Der Bernhardiner hebt das Bein. "Nicht hier, Fidel“, ruft sein Herrchen aufgebracht, doch es ist zu spät. Ungerührt nässt Fidel das flämische Gelb ein. Doch niemand hier sieht darin mehr als einen Kollateralschaden auf dem Weg zur Unabhängigkeit.