Der menschliche Wille ist mächtig. Aber ist er auch frei? Ja, betonen Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke in ihrem Buch "Wille und Gehirn".
Nur wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern - so lehr ich's dich - Wille zur Macht!"
Hätte Friedrich Nietzsche, der diese Zeilen in "Also sprach Zarathustra" schrieb, gut hundert Jahre später in den Schriften Wolf Singers blättern können - ihm wäre der Atem gestockt: Der menschliche Wille nichts als Neuronengewitter? Der freie Wille bloße Illusion? Mit Thesen wie diesen stößt der 64-jährige, in Frankfurt tätige Hirnforscher Singer auch seine Zeitgenossen vor den Kopf. Das Prinzip der Verantwortlichkeit des Menschen sei unhaltbar, so Singer, denn im Gehirn gäbe es keine Führung. Eine These mit weit reichenden Folgen, vor allem für die Rechtsprechung.
Auch sein Bremer Kollege Gerhard Roth negiert die Willensfreiheit des Menschen. Als Beleg dafür sieht er jenes Phänomen, mit dessen Entdeckung die beiden Neurobiologen Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke im Jahr 1965 für Furore sorgten: das Bereitschaftspotenzial.
Wille als Hirngespinst
Kornhuber und sein Doktorand Deecke hatten Versuchspersonen an der Neurologischen Klinik in Freiburg gebeten, spontane Fingerbewegungen auszuführen, während zugleich ihre Hirnströme gemessen wurden. Das Ergebnis: Bereits mehr als eine Sekunde vor der willkürlichen Bewegung zeigte sich im EEG eine charakteristische Welle - das "Bereitschaftspotenzial". Jahre später wurde der Versuch vom US-Physiologen Benjamin Libet erweitert. Er ließ Probanden abermals Fingerbewegungen durchführen - und bat sie zusätzlich, sich den Zeitpunkt zu merken, an dem ihnen die Entscheidung zur Fingerbewegung bewusst wurde. Fazit: Der Handlungswunsch wurde erst 200 Millisekunden vor der Ausführung bewusst - lange nach der "Bereitschaft" des Gehirns.
Roths Conclusio: Noch bevor der Mensch glaubt, sich bewusst entschieden zu haben, hat sein Gehirn längst ein Machtwort gesprochen. Der bewusste Wille sei folglich ein Hirngespinst.
Hans Helmut Kornhuber, der neben Medizin auch Philosophie bei Romano Guardini, Martin Heidegger und Karl Jaspers studierte, und Lüder Deecke, der 1992 in Wien das Ludwig Boltzmann Institut für funktionelle Hirntopografie gründete, wehren sich seit jeher gegen solche Interpretationen (vgl. das Interview "Die schießen auf Pappkameraden" in Furche Nr. 51/52 vom 21.12.2006). Im Buch "Wille und Gehirn" haben sie nun ihre Argumente und Gedanken zusammengestellt. Herausgekommen ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Willensfreiheit (dem ein paar Gliederungen mehr und ein paar Fachbegriffe weniger nicht geschadet hätten) - und ein Parforceritt durch die Geistesgeschichte.
Der Bogen spannt sich dabei von Hesiod bis zum mittelalterlichen Franziskaner Petrus Johannis Olivi, der den Willen als König im Reich der Seele sah (ein Regierender mit Verantwortung, wie die Autoren betonen - vor anderen, vor sich selbst und vor allem vor Gott); er reicht von Martin Luther, der jeglicher Eigenmächtigkeit des Menschen skeptisch gegenüberstand, bis zu Sigmund Freud, mit dessen Lehren der Willensbegriff für längere Zeit aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwand. Der Neuanfang der Willensforschung ging schließlich 1965 von der Neurologie aus - eben durch Kornhubers und Deeckes Entdeckung des Bereitschaftspotenzials.
"Alte Propaganda"
Dass nun durch Neurowissenschafter wie Wolf Singer und Gerhard Roth abermals die Existenz des Willens geleugnet wird, sorgt bei Kornhuber und Deecke für Befremden. Es gebe heute eine "Neuauflage der alten Propaganda für Totaldeterminismus", klagen sie - um in der Folge auf die wesentlichen Argumente der populären Willens-Skeptiker einzugehen. Roths Hinweis, dass das Bereitschaftspotenzial das Fehlen des Bewusstseins bei willentlichen Handlungen beweise, entgegnen sie, dass die eigentliche Willensbildung schon vor dem Beginn des ganzen Versuches stattgefunden habe. Später werde die Bewegungsvorbereitung zunächst unbewussten Routineprozessen in bestimmten Hirnarealen überlassen. "Umso bemerkenswerter ist es jedoch, dass bei jeder der vielen kleinen stereotypen Bewegungen des Zeigefingers doch immer wieder etwa 200 Millisekunden vor dem Bewegungsbeginn - noch rechtzeitig, um nötigenfalls etwas ändern zu können - das Bewusstsein eingeschaltete wird, ein großer Aufwand für das Gehirn, der zeigt, dass selbst so unbedeutende Bewegungen kontrolliert werden, wenn sie willentlich sind."
Kooperation im Hirn
Und Singers Kritik, dass es im Gehirn keine Führung gebe, bewerten sie als "seltsam": "Freilich braucht das Frontalhirn (laut Kornhuber und Deecke das Organ des Willens, Anm.) die Zusammenarbeit mit anderen Teilen des Gehirns; aber auch wenn die Orte wechseln, an denen über- und untergeordnete Entscheidungen fallen: Entscheidungen im Gehirn gibt es - das sagt nicht nur unser Bewusstsein, das zeigt auch das Verhalten." Dass das Willenssystem im Gehirn kooperativ funktioniere, spreche also nicht gegen seine Freiheit. Schließlich benötige auch modernes Management Zusammenarbeit.
Es gibt ihn also, den freien Willen. Und geht es nach Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke, dann sei es höchste Zeit, verantwortungsvoller mit ihm umzugehen: in der Kindererziehung ebenso wie beim Umgang mit den körperlichen oder ökologischen Ressourcen. "Wille ist vernünftige Selbstführung des Menschen, ist Denken und Tun aus der Persönlichkeit und ihrem Kern, dem Selbst", lautet das Fazit der Autoren. Oder um mit Nietzsches Zarathustra zu sprechen: "Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit."
Wille und Gehirn
Von Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke. Edition Sirius, Bielefeld/Locarno 2007. 149 S., kart., € 10,10