Social Media, soziale Medien, Smartphone, Digitalisierung - © M. Schwarz

Die signifikante Selfie-Sucht

19451960198020002020

Die exzessive Selbstdarstellung im Netz als Forschungsgegenstand: Betrachtungen zu einem boomenden Medienphänomen.

19451960198020002020

Die exzessive Selbstdarstellung im Netz als Forschungsgegenstand: Betrachtungen zu einem boomenden Medienphänomen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt eine Gnade der späten, aber auch der frühen Geburt. Im Hinblick auf die exzessive Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken wie Facebook & Co handelt es sich um letzteren Fall. Selfies sind foto- oder videografische Selbstporträts mittels Smartphone oder Webcam, die an Freunde versendet oder auf einer Internet-Plattform hochgeladen werden. Für Jugendliche ist diese öffentlich inszenierte Selbstbezogenheit zum fixen Teil ihres Alltags geworden - ein Spiel, bei dem man mitmachen sollte, verbunden mit einem Druck, dem man sich oft nur schwer entziehen kann. Wer hingegen die jugendliche Identitätssuche vor dem Aufkommen der Smartphones in diskreter Gemütlichkeit zugebracht hat, weist bessere Chancen auf, sich nicht vom manischen Selbstmonitoring anstecken zu lassen.

"In der Zukunft wird jeder für fünf Minuten berühmt sein", hat der Pop-Art-Künstler Andy Warhol in den 1960er-Jahren vorausgesagt. Er ahnte freilich nicht, dass der Ausblick auf ein klein wenig "Ansehen", und sei es nur in der engsten Bezugsgruppe, Millionen von Menschen dazu antreiben würde, unablässig Szenen aus ihrem Privatleben zu veröffentlichen: in Alltags- oder Ausnahmesituationen, in bester Gesundheit oder mit schwerer Krankheit, im Adams-oder Evakostüm, ja sogar nach dem Sex oder bei Beerdigungen. "Sorgt euch nicht", könnte man den Selfie-Fanatikern mit dem französischen Multimedia-Künstler Patrick Mimran entgegenrufen: "Keiner von uns wird im nächsten Jahrhundert erinnert werden."

Traditionen der Selbstinszenierung

Der autobiografische Bilderreigen in der Online-Sphäre kam mit den ersten Handy-Kameras auf, die zur Jahrtausendwende auf den Markt gebracht wurden. 2004 wurden die digitalen Selbstbildnisse erstmals mit dem Etikett "Selfie" versehen. Von den Stars und Celebritys dieser Welt wurde die Praxis als simple, aber effektive Marketingstrategie entdeckt; die Massenmedien folgten ihnen auf den Fersen. 2013 wurde der Begriff "Selfie" im "Oxford Dictionary" zum Wort des Jahres gekürt. Und vor einem Jahr kam es bei der Oscar-Verleihung zu einem prominenten Gruppenbild: Hollywood-Stars wie Julia Roberts, Brad Pitt und Jennifer Lawrence schmiegten sich für den selbstgemachten Schnappschuss zusammen. Der PR-Effekt war enorm; die Internet-Gemeinde teilte das Bild millionenfach.

Selfies stapeln sich auf den Social-Media-Plattformen, und ihr Austausch unterliegt dem Fluss gesellschaftlicher Trends: Welche Antworten hat die Wissenschaft auf dieses signifikante Medienphänomen? Dass die obsessive Beschäftigung mit Selfies mit einer gehörigen Portion Narzissmus zusammenhängt, ist das wenig überraschende Ergebnis einer Studie der Ohio State Universität, die zu Beginn des Jahres vorgestellt wurde. Jüngere Männer, die häufig inszenierte Selbstporträts in sozialen Netzwerken verbreiteten, wiesen eher narzisstische Persönlichkeitsmerkmale auf als jene, die sich damit zurückhielten. Erstaunlicher war da schon, dass die Selfie-fixierten Männer auch zu anderen antisozialen Charakterzügen neigten und eher psychopathisch veranlagt waren. Der Zusammenhang zwischen Selfie-Obsession, Narzissmus und Psychopathie trat jedoch nur als Tendenz zutage; die Studienteilnehmer der Studie lagen alle im psychischen Normbereich. Eine ähnliche Studie ist nun auch bei Frauen geplant.

Beim ersten Selfie-Kongress im deutschen Sprachraum, der kürzlich an der Universität Marburg abgehalten wurde, standen die psychologischen Aspekte dieser Praxis nur am Rande zur Diskussion. Vielmehr wurde das Thema an der Schnittstelle verschiedener Fächer beleuchtet: zwischen Kultur-und Medienwissenschaften, Technologie-Geschichte und der Soziologie digitaler Netzwerke. "Typisch ist es, ein neues Medium erst einmal zu pathologisieren", sagte der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz, ein Organisator der Tagung. Das Selfie sei als Breitenphänomen nicht unbedingt mit Narzissmus assoziiert, und "nicht nur irgendein vorübergehender Hype der Netzkultur, sondern eine beachtenswerte kulturelle Praxis". Diese aber, so wäre anzumerken, fügt sich nahtlos in die Kultur des eitlen "Posings" und der neurotischen Selbstbespiegelung.

Als moderne Praxis basiert der Selfie auf bisherigen Traditionen der Selbstinszenierung. Als Spiegel ab dem 15. Jahrhundert in zunehmend besserer Qualität produziert werden konnten, kam es auch zu einer Zunahme der künstlerischen Selbstporträts. Und mit den zarten Anfängen der Fotografie im 19. Jahrhundert wurde gleich der erste Selfie produziert: Der amerikanische Amateur-Fotograf Robert Cornelius entfernte die Schutzkappe von seiner Kamera und musste für einige Minuten davor posieren. Das war 1839. Etwa zur selben Zeit bediente sich Charles Wheatstone, der Erfinder des Stereoskops, bei seinem Selbstporträt der Daguerreotypie-Technik, indem er die Kamera auf seinem Schoß platzierte und sein Bild im Spiegel ablichtete.

Robuste Action-Kameras

Die Ursprünge des Video-Selfies hingegen finden sich in Experimentalfilmen wie "Holding the Viewer" (1993) von Tony Hill. Der britische Künstler könnte damit als Erfinder der teleskopischen "Selfie-Stangen" durchgehen, auf der Kameras jeden Schritt des Filmenden verfolgen. Aufgrund des technologischen Fortschritts sind Selfies zur jederzeit verfügbaren Praxis geworden. Das aber bedeutet zugleich einen Bruch mit traditionellen Formen der Selbstinszenierung. "Natürlich kann man Selbstporträts als Vorläufer betrachten", meint Medienwissenschaftler Ruchatz. "Aber es geht hier weniger um ein gültiges Bild einer Persönlichkeit als um den Akt der Kommunikation, indem ich das Bild und meine Erfahrungen unmittelbar mit anderen teile." Unmittelbarkeit ist hier das Schlüsselwort, zumal die Verbindung zwischen Körper und Apparat immer enger geworden ist. Robuste Action-Kameras wurden entwickelt, die selbst extremsten Manöver standhalten können - oft besser als der Fotograf selbst. Atemberaubende Bilder von Skatern, Surfern, Bikern, und Extremsportlern aller Art kursieren im Netz und appellieren an den Heroismus anderer User. Damit werden junge Menschen eventuell zu lebensgefährlichen Stunts animiert, warnen Experten; das Risiko eines Unfalls werde erhöht. "GoPro" etwa wird direkt am Körper oder auf Helme und Sportausrüstungen montiert: Der deutsche Tagesspiegel bezeichnete sie als "die gefährlichste Kamera der Welt".

Die Gretchenfrage in der Debatte um die Selfies betrifft ihren gesellschaftlichen Effekt: Fördert der Selfie-Kult selbstbezogenes Verhalten und die Aushöhlung der Privatsphäre - oder sind die neuen Selbstbildnisse nicht ein Medium der Emanzipation von vorgegebenen Schönheitsidealen? Führen sie nicht zu mehr Selbstbestimmung, indem sie die Deutungshoheit über das eigene Bild ermöglichen? In der Kunst leisteten ihre Vorläufer immerhin einen wichtigen feministischen Beitrag, so eines der Argumente.

Hang zu stereotypen Posen

Was in der Theorie gut klingt, bleibt in der Praxis wohl ein Minderheitenprogramm. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich die User freiwillig bestimmten Genre- Regeln unterwerfen, obwohl das "Selfie" das große Versprechen der Individualität zu enthalten scheint. Viele Websites präsentieren nur Selbstbilder aus einem Genre, und stereotype Posen wie der Schmollmund ("Duckface") oder die aufgerissenen Augen werden meist strikt nachgeahmt.

All das ist nicht nur Anlass für humorlose Kulturkritik. Bietet doch das Selfie selbst genügend Potenzial für Witz und Kreativität. Davon zeugen etwa die neuen "Catbeard"-Selfies (Selbstporträt mit Katze) oder die Schnappschüsse von Kindern, die oft zu einem beschwingten Szenario aus Singen und Schaukeln geraten. Auch von Robotern gibt es authentische Selfies, wie der Marburger Kongress anhand der NASA-Marsmission 2012 verdeutlichte. Kinder, Tiere und Roboter - man sollte sich an ihnen orientieren, denn die Nebenwirkungen übersteigerter Egozentrik können gravierend sein, wie der Dichter William Blake (1757-1827) visionär verkündet hat: "Nutzlose Selbstsucht sei immer verbannt; ihre Knechtschaft die Liebe verhindert."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung