"Irgendwann schlägt irgendwer wieder zu, irgendwo"

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Unablässig heulen hier Sirenen. Und sie bedeuten immer: Jemand oder etwas ist zu Schaden gekommen. Nur schaut keiner hin, keiner hört den schrillen Alarm. Jeder hastet seines Weges. London, die Kapitale der Indifferenten, aber von Abertausenden Kameras auf Schritt und Tritt Beäugten; denn Terrorgefahr ist im Verzuge. Irgendwann schlägt irgendwer wieder zu, irgendwo. Viel ist schon vereitelt worden, man weiß es aus der Presse. Und alle vereitelten Terroranschläge kann man hierzulande am Guy Fawkes Day sogar feiern, jenem Tag im November, an dem man der Aufdeckung des Anschlags katholischer Verschwörer gedenkt, die anno 1605 das Parlament mit Schwarzpulver in die Lüfte befördern wollten.

Potenziell ist heute jeder verdächtig und zum polizeilichen Abschuss freigegeben, der mit einem Rucksack oder Plastikbeutel in die U-Bahn kommt oder in einen Bus einsteigt; verdächtiger noch, wenn ihm arabisches Aussehen anhaftet. Aus London ist die Kapitale des Misstrauens geworden, des Argwohns. Ja, es hat sich viel verändert im Klima dieser Stadt. Die roten Telefonzellen sind verschwunden, die alten roten Busse, auf die man elegant aufspringen konnte, noch nachdem ein leibhaftiger Schaffner die Klingelschnur gezogen und dem Fahrer damit Abfahrt bedeutet hatte. Verändert hat sich Trafalgar Square, auf dem nun im Wechsel bildende Künstler Klobig-Auffallendes auf einem der Denkmalsockel aufstellen dürfen, um den Löwen (aber natürlich nicht Admiral Nelson!) Konkurrenz zu machen.

London, das ist die stadtgewordene Extremsituation als Dauerzustand, das ist die rund um die Uhr pulsierende Metropolis ohne Ruhemoment, wo die Kommerzkultur Bilanzen liest, als seien sie Romane.

London, das ist das Infrastrukturchaos in Permanenz, das sich nun noch dazu verurteilen ließ, Olympische Spiele auszurichten, um sich auf diese Weise dazu zu zwingen, wenigstens bis 2012 ein halbwegs funktionstüchtiges U-Bahn-System wieder herzustellen, nebst einer neuen, eigens vom Parlament beschlossenen neuen Bahnline quer durch London: von Südwest nach Nordost. Man denkt eben global; und führt man nicht gerade einen weiteren desaströsen postkolonialen Antiterror-Krieg "da draußen", dann erobert man sich eben selbst.

Welch eine Stadt: vor-, hoch- und postmodern in einem, mondän und an vielen Ecken und Squares schlicht dörflich, polyzentrisch und multiethnischer als irgendeine andere Metropole Europas, erfreulicherweise ohne die Banlieue-Probleme von Paris. Denn London ist nicht ausgrenzend englisch, sondern britisch integrierend. England beginnt erst in den so genannten homecounties, den London umgebenden Grafschaften.

London blüht und verkommt wie einst und je. Es blüht der Kunsthandel; es verkommt der Geschmack am sozialen Gewissen. Die Galerien sind das Mekka der zeitgenössischen Künstler. Die Tate Modern bietet das Modernste vom Nachmodernen: eine Installation mit tiefem Riss, in den Besucher fallen können, was sie auch schon reihenweise taten, sich verletzten, Alarm auslösten, damit man sie auch hier hören konnte, die Sirenen der Krankenwagen, deren hygienischer Zustand laut neuestem Bericht ans Lebensgefährliche grenzt. Ginge es nach mir, ich würde diese Installation in der Tate Modern für immer so belassen. Denn sie ist ein Symbol für London - ganz wie der von Anbeginn bankrotte Millennium Dome, das scheußliche Riesenrad an der Themse, und die inzwischen inmitten der City-Hochbauten, einschließlich des Gurkenturms, wie geschrumpft und mitleidsbedürftig wirkende St. Paul's Cathedral: Dieser Riss, diese Kluft im Boden der Tate Modern weist in dieser Metropolis auf das Abgründige, das sich verzweifelt-gelassen darum bemüht, zum Lachen zu sein.

Zur Person

Rüdiger Görner, geboren 1957 in Rottweil/Württemberg, lebt seit 1981 in London und ist Professor für Deutsche Literatur an der University of London. Jüngste Buchveröffentlichungen: "Londoner Fragmente. Eine Metropole im Wort" (Patmos 2003), "Rainer Maria Rilke - Im Herzwerk der Sprache" (Zsolnay 2004), "Thomas Mann - Der Zauberer des Letzten" (Artemis & Winkler 2005).

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