Irritiert und verwirrt

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Großes Gedränge in der Tate Modern, Londons jüngstem Tempel für moderne Kunst. Experten rätseln über die plötzliche Liebe zu Zeitgenössischem.

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Großes Gedränge in der Tate Modern, Londons jüngstem Tempel für moderne Kunst. Experten rätseln über die plötzliche Liebe zu Zeitgenössischem.

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S ie sind mit Säuglingen, Kleinkindern und Tafelklasslern gekommen. Die einen hängen in Tragetaschen am väterlichen oder mütterlichen Rücken, die anderen sitzen in Kinderwägen, die dritten laufen munter umher. Platz ist ja genug, und an den vielen Beinen von Erwachsenen, die es im Spiel zu umrunden gilt, haben sich die Kleinen ja noch selten gestoßen.

Wer kein Kind zu tragen hat, ist statt dessen mit einem Rucksack für die Jause bepackt. Allenthalben sitzen auf Holz- und Steinbänken sowie auf diversen Klappstühlen Menschen, trinken und essen oder schauen einfach in die Luft. Freizeit ist, zweifelsohne. Doch wir befinden uns in keinem Park, auf keiner Wiese und in keinem Wandergebiet. Wir haben uns einfach unter die Besucher und Besucherinnen der Tate Modern gemischt, Londons jüngstem Tempel für moderne Kunst.

Eröffnet wurde die Tate Modern im Mai vorigen Jahres in einem von dem Schweizer Architektenteam Herzog und de Meuron umgebauten alten Kraftwerk am Südufer der Themse. Knappe acht Monate später konnte sie zu Beginn dieses Jahres eine Besucherzahl von fast vier Millionen vorweisen. Selbst die kühnsten Hoffnungen waren damit übertroffen - mit etwa 3,5 Millionen hatte man in den ersten zwölf Monaten gerechnet. Und die Menschen strömen täglich weiter zu tausenden herbei.

Spektakuläres zieht an Haben sich die Briten zu begeisterten Anhängern moderner Kunst gewandelt? Haben sie quasi über Nacht ihre tiefe Skepsis gegenüber zeitgenössischem Schaffen abgelegt?

Weder Sir Nicholas Serota, der Direktor der Tate, noch Kritiker und Kommentatoren neigen fürs Erste zu derartigen Schlussfolgerungen. Die Menschen, betonte Serota jüngst in einem Interview, mögen die neuen Gebäude als attraktiv, ja spektakulär empfinden. Sie mögen das gesellschaftliche Ereignis eines Museumsbesuchs genießen, und auch die Aussichtsterrassen der Tate Modern bieten einen wunderbarer Blick über die Themse hin zur St. Paul's Cathedral, und sie mögen einen Espresso oder ein Glas Wein in einem der Cafes im Gebäude konsumieren, und dann noch ein Buch oder von einem Künstler entworfenes T-Shirt kaufen. "Aber ich mache mir keine Illusionen", betonte Serota. "Viele loben das Museum über alles und bleiben doch zutiefst skeptisch gegenüber seinen Exponaten."

Ähnlich empfand es ein Kommentator, der den Besucherandrang in der Tate Modern, aber auch in der Walsall-Gallery oder dem im Dezember neu eröffneten Innenhof (Great Court) des Britischen Museums weniger einer Bekehrung zur Kunst zuschreibt als einer "intoleranten Neugierde" Ja, es sei heute eine größere Bereitschaft, sich den Dingen einmal auszusetzen, zu bemerken, allerdings um dann, zumal wenn es sich um moderne Kunst handelt, zu lachen.

Auch ein Kritiker der links von der Mitte angesiedelten Tageszeitung The Independent will das wachsende Interesse an Kulturstätten nicht mit einer vermehrten Beschäftigung mit Kunst gleichsetzen. Er verweist vielmehr auf die Bedeutung öffentlicher Räume im gesellschaftlichen Leben unserer Tage, zumal wenn diese konsumentenfreundlich gestaltet sind. Für ihn fallen der immer beliebtere Besuch von Strassenlokalen, eine Fahrt im Londoner Pendant zum Wiener Riesenrad, Eislaufen am neuen Platz mitten im Herzen der Stadt und Spasshaben in einer Kunstgalerie in eine Kategorie - die des "städtischen Vergnügungsprinzips".

Komsumentenfreundlich ist die Tate Modern in jedem Fall. Nicht, dass Schilder fehlten, die darauf hinweisen, dass essen und trinken in den Ausstellungsräumen selbst verboten ist und man auch die Exponate bitte nicht angreifen möge. Doch es gibt die weiten Räume dazwischen, mit reichlich Sitzgelegenheiten und genug Platz am Boden, wo das eigene Picknick verzehrt werden darf. Es gibt die Terrassen, die Cafes und die Shops zum Schauen, Bummeln und Genießen. Ob der Anblick der Kunstwerke selbst stets Vergnügen bereitet, darf tatsächlich bezweifelt werden, wenn man den Kommentaren von Besuchern lauscht und erstaunte bis verwirrte, irritierte, hilflose oder peinlich berührte Gesichter beobachtet.

Doch Verwirrung, Irritation, Schock, das alles gehört nach Serotas Ansicht zur Kunst dazu, die Frage ist nur, ob oder inwieweit man sich dem zu stellen bereit ist. In Großbritannien noch viel zu wenig, erklärte er in einem Vortrag, der auch in BBC übertragen wurde. Während ein kleines Land wie die Niederlande mit ihren gerade 14 Millionen Einwohnern in sechs Städten moderne Kunstsammlungen von internationaler Bedeutung hätten, könne Großbritannien neben der Tate nur noch die Scottish National Gallery of Modern Art in Edinburgh vorweisen. In den Schulen seien visuelle Bildung und Design vollkommen vernachlässigt worden. Dabei sei visuelles Training in unserem gesamten Leben von Bedeutung: "Es wirkt sich auf die Qualität unserer städtischen Umwelt aus, es entscheidet, wie die Wohnungen aussehen, in denen wir leben, und es führt zu einem Verständnis dafür, wie uns die Medien durch die Manipulation von Bildern beeinflussen", betonte Serota, für den "das Visuelle um nichts weniger wichtig ist als Lesen, Schreiben und Rechnen."

Nur wenige Tage nach seiner Rede zur visuellen Lage der Nation wurde er zum Leiter einer neuen Task Force bestellt, die eine neue Strategie für regionale Museen entwickeln soll.

Die neue Barbarei Aber Serota neigt nicht zum Optimismus. Weder an den für die Kulturpolitik des Landes entscheidenden Stellen noch unter den Briten selbst kann er eine echte Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Zeitgenössischen erkennen. "Viele Leute tun sich eindeutig schwer damit, in der Gegenwart zu leben." Und die Presse sei mit ihrer Tendenz zum Sensationellen auch wenig hilfreich. Das Boulevardblatt Daily Mail kreierte 1999 anlässlich der Verleihung des angesehenen Turner-Kunstpreises eine Schlagzeile, die bis heute immer wieder zitiert wird: "Tausend Jahre lang war Kunst eine unserer großen zivilisatorischen Kräfte. Heute drohen eingelegte Schafe und schmutzige Bettwäsche uns alle zu Barbaren zu machen." Eingelegte Schafe, schmutzige Bettwäsche oder ein simples Wasserglas auf einem Brett, das der Künstler in eine Eiche umgewandelt haben will (so der erläuternde Text in der Tate Modern), sind zu zentralen Symbolen der Gegner moderner Kunst im Lande geworden. Der "Steckengebliebenen", wie sich eine eigene Gruppe nannte, die absolut nicht zu Serota und Konsorten im Reich der Gegenwartsbefürworter gehören will.

Moderne Flaneure Doch auch den "urbanen Stämmen", die in nie zuvor erlebten Zahlen in Museen und Galerien strömen, gilt es mit Skepsis zu begegnen, meint der Kulturkritiker der Times. Großartige neue Gebäude, "architektonische Feuerwerke", schön gestaltete Innenräume, die vom Staub vergangener Zeiten befreit worden sind, und eine Infrastruktur für zeitgenössische Flaneure - das alles wirkt derzeit wie ein Magnet. Aber wirklich hinsehen auf die Exponate ist viel schwieriger. "Wenn wir aber nicht lernen, uns auf ein Werk zu konzentrieren, Zeit mit ihm zu verbringen und seine Fülle zu entdecken, werden wir", so der Kommentator, "nie aus der Kunst jene komplexe, fordernde und unerschöpfliche Nahrung beziehen können, die zu geben sie imstande ist". Kurz: Kuratoren müssten sich dessen bewusst sein, dass Cafes, Shops, Terrassen mit wunderbarem Blick, großzügige Räumlichkeiten und dergleichen Attraktionen mehr allzuleicht Ersatz zu werden drohen: Spektakel und Genuss stehen dann an der Stelle einer echten und engagierten Beschäftigung mit Kunst.

Doch darauf deuten die Epitheta für die neuen Kulturstätten vorerst nicht hin. Als "Palast des Volkes" ist die Tate Modern bezeichnet, mit einer Kathedrale ist sie verglichen worden. Weder an dem einen noch an dem anderen Ort wird Kunstbetrachtung betrieben.

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