Lebensretter vor Gericht

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Juni 2004: Elias Bierdel rettet 37 afrikanische Flüchtlinge aus Seenot im Mittelmeer. Juni 2008: Der Prozess gegen ihn wird zum Plädoyer für ihn.

Die Mühlen der italienischen Justiz mahlen langsam - doch die Chance, dass Elias Bierdel dabei nicht mehr zermalmt wird, stehen mit einem Mal sehr gut. Der Gerichtsprozess gegen den Deutschen im sizilianischen Agrigento hat eine "wundersame Wendung" genommen, sagt Bierdel im Telefoninterview. Im April letzten Jahres hat die Furche dem ehemaligen Geschäftsführer der deutschen Entwicklungshilfeorganisation "Cap Anamur" einen Blattaufmacher gewidmet, vor Ort vom Prozess in Agrigento berichtet (Nr. 17/2007). Zurecht, denn in der Anklage gegen Bierdel und zwei seiner Kollegen kulminiert die Flüchtlingstragödie vor Europas Küste, und der Ausgang dieses Prozesses ist der Präzedenzfall schlechthin für Europas Umgang mit den Tausenden Afrikanern, die über das Mittelmeer fliehen und/oder geschleppt werden.

Schlepper oder Retter?

"Bildung einer Schlepperbande zum Zwecke illegaler Migration" lautet die Anklage gegen die drei Beschuldigten, der das Gericht dem Vernehmen nach immer weniger Glauben schenkt. Vielmehr findet die Darstellung von Bierdel und Gefährten Gehör, die diese seit der Landung ihres Schiffes vor vier Jahren auf Sizilien erzählen: Am 20. Juni 2004 wird dem heute mitangeklagten Kapitän des Versorgungs- und Hilfsschiffes "Cap Anamur" die Meldung gemacht: "Schlauchboot voraus!" Der Kapitän denkt zuerst an Arbeiter, die unterwegs zu einer Öl-Bohrinsel sind - doch kurz später meldet die Cap-Anamur-Brücke im Mittelmeer an die Cap-Anamur-Zentrale in Köln: "Also das sind 37 Männer - die sind alle total fertig! Waren wohl schon ein paar Tage unterwegs mit ihrer Gummiwurst … Trinkwasser haben sie auch keines mehr, sie flehen uns an, sie an Bord zu nehmen. Und genau das werden wir jetzt machen!"

Bierdel eilt ans Mittelmeer und aufs Schiff. Mittlerweile macht Italien gegen die Cap Anamur mobil: Polizei-, Zoll- und Küstenwache-Boote umkreisen die Cap Anamur, Hubschrauber patrouillieren im Tiefflug. Das Schiff erhält keine Einfahrtsgenehmigung in einen italienischen Hafen. Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily und sein römischer Amtskollege Beppo Pisanu geben eine Erklärung ab: "Es geht hier darum, einen gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern."

Nach zehn Tagen Warten eskaliert die Lage an Bord, die Flüchtlinge gehen in Hungerstreik, versuchen Hand an sich zu legen - der Kapitän erklärt den Notfall, die Cap Anamur wird mit Polizeieskorte in den Hafen von Porto Empedocle geleitet. Bierdel, der Kapitän des Schiffes und sein Erster Offizier kommen in Haft, die Flüchtlinge werden trotz anders lautender Zusicherungen abgeschoben, das Schiff als "Tatwerkzeug" beschlagnahmt.

Zwölf Jahre Haft drohen Elias Bierdel und seinen Kollegen bei einem Schuldspruch. Doch vier Jahre nach der Cap-Anamur-Tragödie und eineinhalb Jahre nach Prozessbeginn bricht die Strategie der Anklage, die Cap-Anamur- Verantwortlichen zu kriminalisieren, in sich zusammen. Bereits der zweite Staatsanwalt hat das Handtuch geworfen und auch dem dritten Vertreter der Anklage mag es nicht gelingen, die drei als Schlepper zu überführen.

Präzedenzfall in jedem Fall

"Absurd, schwachsinnig, hirnrissig", nennt das Bierdel. Realität ist hingegen, dass sieben tunesische Fischer vor demselben Gericht der Schlepperei angeklagt sind, weil sie im Sommer 2007 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und nach Lampedusa gebracht haben. Das Signal, das von diesen Prozessen ausgeht, ist verheerend. "Kein Fischer wird mehr einem Afrikaner in Seenot die Hand reichen, jeder Kapitän wird wegschauen und vorbeifahren, wenn er Bootsflüchtlinge sieht", fürchtet Bierdel. Mit einem Freispruch hofft er einen anderen Präzedenzfall für Europa zu schaffen: einen fürs Hinschauen und einen für die helfende Hand.

Weitere Info: www.borderline-europe.de Die Furche wird über den Prozessverlauf weiter berichten.

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