"Wir wissen: Da draußen ertrinken Menschen"

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Elias Bierdel und zwei weitere Angeklagte werden der Schlepperei und organisierten Kriminalität beschuldigt, weil sie 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und in einen sicheren Hafen gebracht haben. Als Strafe drohen zwölf Jahre Gefängnis, erfährt die furche beim Prozess auf Sizilien.

Im sizilianischen Agrigento haben von der Staatsmacht angeordneter Schmerz und Verzweiflung sehr lange Tradition: als der Tyrann Phalaris in antiker Zeit die Stadt regierte, die damals noch Akragas hieß, ließ er Fremdlinge und ihm verhasste Personen in einen bronzenen Stier sperren, um sie auf einem darunter angezündeten Feuer langsam zu Tode zu rösten - die herzerweichenden Schmerzensschreie der Unglücklichen klangen für die Vorbeikommende wie das fürchterliche Brüllen eines Stiers.

Heute treibt kein "eherner Stier" mehr Fremde und dem Staat unerwünschte Menschen in die Verzweiflung, heute erledigt das die eiserne Faust eines Gesetzes, das sich mehr der Macht als dem Recht verpflichtet fühlt: "La Legge È Ugguale per Tutti" prangt in riesigen Lettern aus dunklem Edelholz über dem Richterstuhl im Justizpalast von Agrigento: "Das Gesetz ist für alle gleich" - für den Angeklagten Elias Bierdel der blanke Hohn, denn bei ihm und zwei weiteren Angeklagten gilt diese verbürgte Gleichheit nicht, an ihnen wird ein vom Staat angeordnetes Exempel statuiert.

"Hauptberuf: Angeklagter"

Man muss Elias Bierdel überhaupt nicht länger oder besser kennen, um auf den ersten Blick zu merken, wie schwer es dem sichtlich aufgebrachten Angeklagten fällt, untätig hinter seinem Anwalt im Gerichtssaal Nummer 7 sitzen zu müssen; wer aber Gelegenheit hatte, von Bierdel ein Nachtessen, ein Frühstück und ein, zwei, drei über den Vormittag verteilte Espressi lang das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur mit so viel Herzblut, vermischt mit Wut und Schmerz erzählt bekommen zu haben, der weiß, wie unerträglich es für den 47-jährigen Deutschen ist, vor Gericht nicht selbst das Plädoyer gegen dieses "himmelschreiende Unrecht" halten zu dürfen. Auf die Frage nach seinem momentanen Beruf wird er am Abend nach dem Prozesstag antworten: "hauptberuflich Angeklagter" - Bierdel sagt das zwar halb im Ernst, halb im Scherz, aber letztlich ist über diese Selbstbeschreibung nicht viel zu lachen.

Eine große Idee versenkt

In diesem Prozess geht es für Bierdel um alles oder nichts: Nicht nur das Gefängnis und finanzieller Ruin drohen, auch und vor allem Bierdels Reputation steht und fällt mit dem Urteil. Denn die Cap Anamur, das weltweit erste und einzige "humanitäre, nicht kommerzielle Rettungs-, Versorgungs- und Hilfsschiff", war seine Idee gewesen; damit wollte er als Geschäftsführer der gleichnamigen deutschen Entwicklungshilfeorganisation einen Meilenstein im Katastrophenmanagement setzen: schnell, flexibel, unabhängig, unbestechlich, allein dem Wohl und Wehe Hilfsbedürftiger weltweit verpflichtet. - Und was ist daraus geworden? Sein Schiff verschrottet, der Cap-Anamur-Geschäftsführung mehr oder wenig freiwillig verlustig gegangen und jetzt als vermeintlicher Schlepper und Menschenhändler vor Gericht - nicht nur zu Zeiten grausamer sizilianischer Tyrannen können sich Schicksalswendungen zu Tragödien antiker Größenordnung auswachsen.

Bierdel sitzt mit rotem Kopf im Gerichtssaal - und daran hat nicht nur die sizilianische Frühlingssonne Schuld; ungeduldig streckt er seinen Kopf der Dolmetscherin hin, wenn diese nicht sofort jedes italienische Wort ins Deutsche übersetzt; und mit seinen zerzausten rotblonden Haaren auf dem Kopf und im Gesicht kommt er der landläufigen Vorstellung des legendären Friedrich Barbarossa recht nahe - auch der wie Bierdel ein Deutscher, der sich bekanntlich mit Italien im Allgemeinen und Sizilien im Besonderen recht schwer getan hat.

Wie weiland Barbarossa

Die ungewohnte Ausgangslage und die europäische Dimension dieses Falls machen auch der vorsitzführenden Richterin im Justizpalast von Agrigento zu schaffen - sie wirkt jedenfalls von der ersten Sitzungsminute an heillos überfordert; das können weder ihr mit goldenen Quasten und Bordüren aufgemotzter schwarzer Talar noch gelegentliche Wutausbrüche abgelöst von übertrieben freundlichem Getue kaschieren. Ein deutscher Hitzkopf Stauffer'schen Ausmaßes mit mehr Redebefugnissen würde bei einem solchen Visavis den Prozesstopf ständig zum Überlaufen bringen - prozesstaktisch ist es deshalb sicherlich gescheit, dass ein auf ziviles Seerecht spezialisierter Anwalt aus einer angesehenen neapolitanischen Advokatenfamilie mit Justizministern im Stammbaum die Verteidigung der Cap-Anamur-Besatzung übernommen hat (siehe Interview Seite 3). Der lässt Frau Richterin schimpfen und laut werden, umgarnt sie anschließend mit ein paar wohlgesetzten Komplimenten, um schließlich ihr Einverständnis für den noch fünf Minuten vorher als völlig unmöglich erachteten Simultan-Dolmetscher zu erhalten.

Rechts von der Anklagebank steht ein raumhoher Eisenkäfig, doch der Kotter ist leer; wenigstens muss Bierdel seinen Prozess nicht hinter Gittern mitverfolgen; doch die sizilianische Ausformung schwedischer Gardinen ist dem Angeklagten keineswegs fremd: 12. Juli 2004, Elias Bierdel sowie der Kapitän und Erste Offizier der Cap Anamur werden von ihrem im Hafen von Agrigento vor Anker liegenden Schiff heruntergelockt und zur "Zeugenbefragung" ins Polizeipräsidium der Stadt gebracht; dort mutieren die Zeugen unversehens zu Beschuldigten, die nach stundenlangen Verhören im Gefängnis "Casa Circondariale" landen.

Schlepper wissen's besser

Spätestens an diesem Ort müsste für alle Beteiligten klar sein, dass die Anschuldigungen gegen Bierdel und die zwei anderen Cap Anamur-Verantwortlichen völlig aus der Luft gegriffen sind - und zwar bestätigt von Spezialisten, die es wissen müssen.

37 Geschleppte - lächerlich

Die professionellen Schlepper, die im Gefängnis von Agrigento einsitzen, schlagen bei den Erzählungen ihrer neuen Zellengenossen nur die Hände über dem Kopf zusammen und können es nicht fassen, dass Bierdel & Co mit ihrem riesigem Schiff "nur" 37 Leute übers Meer gebracht haben. Ein hagerer Schlepperprofi aus Marokko rechnet vor, was er an Bierdels Stelle gemacht hätte: "Auf so ein Schiff packe ich mindestens viertausend Leute! Jeder gibt mir tausend Dollar. Schon ist der Kahn mit einer einzigen Fuhre abbezahlt - und zwei Millionen habe ich dabei noch verdient!"

Vier Tage müssen die drei Beschuldigten im Gefängnis bleiben - der "Querulant" Bierdel unter verschärften Bedingungen. Vor den Gefängnistoren wird für die Freilassung der Cap-Anamur-Besatzung und gegen die Abschiebung der 37 Afrikaner demonstriert - ersteres mit, zweiteres ohne Erfolg: das Trio kommt frei, mit der Auflage, sich in den südlichen Küstenregionen nicht mehr blicken zu lassen. Die Flüchtlinge werden bis auf zwei Ausnahmen abgeschoben. Damit endet für die "Cap Anamur-Boys" eine dreiwöchige emotionale Hochschaubahn, auf der sie von Todesangst bis Überlebensfreude, von Selbstmordabsichten über Asylhoffnung bis Deportationsangst keinen Gefühlslooping auslassen dürfen.

"Schlauchboot voraus!"

Als dem Kapitän der Cap Anamur auf hoher See am 20. Juni 2004 "Schlauchboot voraus!" gemeldet wird, denkt dieser zuerst an Arbeiter, die unterwegs zu einer der Öl-Bohrinseln sind - doch wenige Minuten später meldet die Cap Anamur-Brücke an die Cap Anamur-Zentrale in Köln: "Also das sind 37 Männer - die sind alle total fertig! Einer hat sofort angefangen zu heulen, als wir ihn auf die Brücke holten. Waren wohl schon ein paar Tage unterwegs mit ihrer Gummiwurst … Trinkwasser haben sie auch keins mehr, sie flehen uns an, sie an Bord zu nehmen. Und genau das werden wir jetzt auch machen!" Weder Retter noch Gerettete denken in diesem Moment daran, dass sich das bergende Schiff sehr schnell in ein eisernes Gefängnis verwandelt, dem der italienische Staat schon bald mit all seinen Machtwerkzeugen einheizen wird.

"Da habt ihr ein heißes Eisen angepackt", wird Elias Bierdel, der zu diesem Zeitpunkt noch in der deutschen Zentrale ist, von Flüchtlingsorganisationen gewarnt, "die Flucht übers Wasser nach Europa und die hohe Zahl von Todesopfern ist ein Tabuthema ersten Ranges in der EU!" Bierdel eilt ans Mittelmeer und gelangt über Tunesien auf das Schiff - keinen Tag zu früh, denn mittlerweile ist klar, dass Italien gegen die Cap Anamur mobil macht: Polizei-, Zoll und Küstenwache-Boote umkreisen das Schiff, Hubschrauber patrouillieren im Tiefflug: "Wir trauten unseren Augen nicht, das sah aus wie im Koreanischen Seekrieg", beschreibt Bierdel die gespenstische Szene, "die fuhren mit Geschützen gegen uns auf, als wollten wir Europa niederreißen."

Land in Sicht, kein Hafen

Dabei will die Cap Anamur nur 37 Menschen in einen sicheren Hafen bringen. Doch für das Schiff gibt es keine Einfahrtsgenehmigung, stattdessen sollen Bierdel und seine Schützlinge zurück nach Malta - der Inselstaat kündigt daraufhin postwendend die Abschiebung der Flüchtlinge nach Libyen an.

Während auf dem Schiff die Verzweiflung wächst und die Not der Flüchtlinge sich jener der Verdammten in Phalaris Stier angleicht, geben der deutsche Innenminister Otto Schily und sein römischer Amtskollege Beppo Pisanu eine gemeinsame Erklärung zum Fall Cap Anamur ab: "Es geht hier darum, einen gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern!" Und das Wort der beiden Minister wird zum Gesetz: Die Cap Anamur darf nicht in den Hafen von Agrigento einfahren: einen Tag lang nicht, zwei Tage nicht …, eine Woche, zehn Tage nicht … - in der Nacht sehen die Flüchtlinge die Lichter der nahen Stadt herüberleuchten; doch am nächsten Tag signalisieren ihnen die Polizeiboote, dass sie noch immer unendlich weit von Europa entfernt sind.

"Gefährlicher Präzedenzfall"

Der Druck an Bord steigt, die Macht legt ein brennendes Scheit nach dem anderen unter; die Machtlosen wehren sich mit dem, was sie noch haben, setzen ihr Leben aufs Spiel: Hungerstreik, Selbstmordversuche - der Kapitän erklärt den Notfall: "Wir können die Situation hier nicht mehr länger unter Kontrolle behalten!" Die Cap Anamur darf anlegen, doch das eiserne Gefängnis auf See wird nur gegen eines auf Land ausgetauscht.

Phalaris, der Tyrann, verlor übrigens durch ein Gleichnis des Pythagoras sein Leben: Der Philosoph redete von der Furcht und wie grundlos diese sei: Denn auch die Tauben könnten den Sperber in die Flucht treiben, wenn sie sich kühn gegen ihn wendeten. Diese Rede erhitzte einen Bürger dergestalt, dass er einen Stein aufnahm und nach dem Tyrannen warf; andere folgten, sodass Phalaris zu Tode gesteinigt wurde.

"Egal wie dieser Prozess ausgeht, den Meeresfriedhof vor den Toren Europas werde ich nie akzeptieren", sagt Elias Bierdel beim Verlassen des Justizpalastes: "Und während wir reden und streiten und uns ablenken lassen, ertrinken da draußen Menschen - dabei haben auch wir unsere Unschuld verloren, denn wir wissen es."

Buchtipp:

ENDE EINER RETTUNGSFAHRT

Das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur

Von Elias Bierdel

Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2006

geb., 232 Seiten, € 19,80

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