Wer fest strampelt, hat vielleicht eine Chance

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"Caretta Caretta" von Paulus Hochgatterer führt in die schräge Welt einsamer Jugendlicher.

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"Caretta Caretta" von Paulus Hochgatterer führt in die schräge Welt einsamer Jugendlicher.

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Caretta Caretta ist eine Meeresschildkröte, "ein geflügelter Torpedo" von leuchtender Schönheit, der ziemlich lang und schwer werden kann. Paulus Hochgatterers jüngster, in Wien angesiedelter Roman ist kein Schildkrötenbuch. Aber das Tier, eigentlich sein Panzer, schwingt sich im Finale zum Sahnehäubchen der Geschichte auf, auch ohne ausgebreitete Flügel und sonnenstrahlenbekränzten Kopf.

Dominik Bach ist 15 Jahre alt und sozial verwahrlost. Deshalb lebt er jetzt in einer sozialtherapeutisch betreuten Wohngemeinschaft, wo er anständig werden soll. Darüber hinaus kümmert sich eine Sprengelsozialarbeiterin um ihn, die ihre 120 Kilogramm in Faltenrock und weiße adidas-Tennisschuhe preßt. Bis jetzt ist Dominik mit den Butterseiten des Lebens kaum vetraut geworden. Also keine plüschgepolsterte, wohlig warme Kindheit, eher Kaltsteppe, abgrundtiefer Schrecken und Finsternis. In erster Linie hat der Stiefvater dafür gesorgt, daß niemals der unnötige Eindruck entstehen konnte, es gebe einen Zusammenhang zwischen Leben und Leichtigkeit. Wie kommt ein emotional beschädigter, durch Gewalt und Leid sozialisierter Mensch durchs Leben?

Nach dem Erfolg mit seiner Erzählung "Wildwasser" breitet der Autor und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer mit erzählerischer Raffinesse eine triste Welt von Jugendlichen aus, wild durchlöchert von Mißbrauch, Aggression, Drogen, Stahlruten. Es ist eine kranke, instabile Welt, die beim kleinsten Trapezakt implodieren kann. An den schmutzigen Rand der Gesellschaft Gespülte, denen nichts in den Schoß gefallen ist. Kindheitstraumata lassen die Psyche Amok laufen. "Manchmal passieren in einer Familie Dinge, die einen summen lassen". Hochgatterer ist ein Meister des Tons, den er anschlägt. Damit ist aber nicht nur die Sprachbühne gemeint. Mühelos und treffend bewegt sich der Psychologe in der Szene. Er jongliert souverän mit dazugehörigen Utensilien und Idolen und entwirft für seine Figuren ein Seeleninterieur scharfsinnigen, markanten Zuschnitts. Der Ich-Erzähler ist Insider der Welt der Wunder von Calvin und Hobbes, besitzt eine Baseballkeule und entdeckt Tom Waits. Er bewegt sich zielsicher zwischen Dealern und Streetworkern im "Fegefeuer Karlsplatz" und seinen Dislokationen. Der neue Gott ist Gianluca Vialli, seinem Bild gehört das Ritual der Bitte um Vergebung und Glück für die Halbschwester.

Hochgatterers Erzählen lebt aber geradezu von einer gewissen Verhaltenheit, die sich mit Andeutungen begnügt und das Böse nicht trivial ins Bild stößt. Sichtbar werden die Fußangeln, verschlüsselt die Wurzeln in Phantasien, Träumen oder Erinnerungen. Und es scheint fast, als töne in diesem Roman auch Pikareskes an. Dominik ist nämlich schlagfertig, nie verlegen, ein großartiger Schwadronierer. Bei jeder Gelegenheit lügt er das Blaue vom Himmel herunter. Das Fabulieren wuchert hier als Surrogat für eine hart belichtete Realität.

Wie die Mutter verkauft Dominik seinen Körper, zum Beispiel an zwei Lehrerinnen, die Cipriani-Nudeln über alles lieben und Fisch und Sekt dazu genießen, oder an die korpulente Lombardi, bei der er gelernt hat, blutige Pfeffersteaks zu essen. Seine Kunden sind aber auch Kontrollore, Schaffner, Justizwachebeamte und so fort. Auf einer mißglückten Zugfahrt zur Fußball-WM nach Frankreich raubt er einen Trommelrevolver. Der "enge, blutige Kanal", den er bei der Bedrohung der Männer im Zug imaginiert, beginnt sich als Erinnerungsspur durch sein Leben zu krümmen; die Vergangenheit ist immer einsatzbereit. Als ihn der an Nierenkrebs erkrankte ehemalige Justitzwachebeamte Kossitzky, der schon einige Zeit seine Dienste in Anspruch nimmt, um Palliativa und um eine letzte Reisebegleitung bittet, ist Dominik zur Stelle. Gemeinsam mit Isabella, der Neuen aus der WG, geht es in die Türkei ans Meer. Man will die Karettschildkröte finden. Immerhin erwacht ein Interesse für das Mädchen. Auch das zeigt die Geschichte, wenn er von "Moosgummi auf den Rippen, roten Haaren und wasserhellen Zellen" träumt. In Hochgatterers Roman fluoresziert immer wieder auf gefinkelte Weise Spannung. Ein Jugendlicher, der über geistige Kompetenz und die Selbständigkeit eines Erwachsenen verfügt, ein Kriminalakt im Zug, der keine sichtbaren Konsequenzen hat. Das sind kühne erzählerische Kunstgriffe, die insgesamt aber stimmig werden, rund um einen Jugendlichen, der sein Dasein und die Brutstätte seiner Verwundungen zu durchleuchten beginnt. "Wir hatten Mitte Juli, Gianluca Vialli war Gott, und wer wußte, ob es Weihnachten in diesem Jahr noch geben würde?" So hehre Sprüche kann er klopfen.

Und die folgende Geschichte streut Hochgatterer aus dem psychologischen Fundus ein: Zwei Frösche fallen in einen Milchtopf. Einer gibt auf und ertrinkt, der andere strampelt und strampelt und hat plötzlich festen Boden unter sich. Er hat die Milch zu Butter gestrampelt. Dominik gehört zu den Stramplern. Der Stiefvater ist tot. Das hat sich erledigt. Mit Erdbeeren und Walnüssen.

Caretta Caretta. Roman von Paulus Hochgatterer. Deuticke Verlag, Wien 1999. 220 Seiten, geb., öS 248,- /e 18,02

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