Alltägliche Abgründe

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Paulus Hochgatterers neuester Roman ist soeben erschienen:

kein Thriller - frohlockt .

Nun hat Paulus Hochgatterer den Thriller tatsächlich geschrieben", frohlockt Lars Brandt auf der Umschlagrückseite, und man ist sich nicht ganz sicher, ob er dem Buch damit etwas Gutes tut. Wenn zu einem Thriller gehört, dass es eine grausam zugerichtete Leiche gibt, viele falsche Verdachtsspuren und eine überraschende Täternennung buchstäblich auf der letzten Seite, dann hat Lars Brandt recht. Aber sonst und in der Hauptsache eigentlich nicht.

Tatort, wenn man in der Diktion bleiben will, ist eine fiktive niederösterreichische Kleinstadt - dieses Ambiente ist Hochgatterer als gebürtigem Amstettner nicht unvertraut. Krimitechnisch könnte man daraus lernen, dass die Kleinstadt ein gutes Biotop ist - so man es nicht auf serielle Delinquenz anlegt. Hier ist es einfach normal, dass jeder jeden kennt samt allen Vorgeschichten und verwandtschaftlichen Verzwicktheiten, was viele gekünstelte Zufälle erspart. Doch eigentlich ist das Kriminalistische Hochgatterers zentrales Interesse nicht.

Er zeigt - auch umfangmäßig - zwei gleichberechtigte soziale Kristallisationszentren: das Kommissariat und den geschiedenen Inspektor Kovacs und das lokale Krankenhaus, genauer die psychiatrische Abteilung des ein wenig mit dem Altersschock kämpfenden Endvierzigers Raffael Horn. Beides Orte, an denen Menschen stranden, die mit den Anforderungen der Gesellschaft nicht zurande kommen und ihr Scheitern in der Kriminalität oder in der Psychose ausagieren. Der Kommissar wie der Psychiater haben ein berufliches Interesse an den Verhaltensanomalien der Menschen. Das war immer schon die Stärke von Hochgatterers Erzählwelten. Er entwickelt mit größter erzählerischer Ruhe Schicksale und Lebenswege, die alle latent psychopathisch sind, weshalb - vom Thriller her gedacht - viele der Akteure als Täter in Frage kommen könnten. Tatsächlich ist man auf Seite 174 überzeugt, dass man zum ersten Mal den Namen des Mörders liest, der als Figur schon lange präsent ist. Und das bleibt so und stellt sich dann doch als Irrtum heraus.

Trotzdem liest man das Buch nicht - oder doch zumindest nicht nur - auf diese Enthüllung hin. Die Spannung entsteht woanders. Zum Beispiel dort, wo Hochgatterer seine Meisterschaft der Miniatur entwickelt. Er kann in Alltagsszenen hineinzoomen, dass dem Leser Hören und Sehen vergeht. So hebt der Roman auch an. Wir sehen ein Kind die Milchhaut von seinem Kakao entfernen. Wir wissen nichts vom Rundum, aber wir sind in Großaufnahme dabei. Und dann entwickelt sich alles in einem Tempo, das zugleich von enormer Langsamkeit und tatsächlich thrillerreifer Rasanz ist, schließlich findet das kakaoschlürfende und "Mensch ärgere dich nicht" spielende Mädchen wenige Minuten später die Leiche des Großvaters und verstummt daraufhin vollständig. Deshalb kommt es auch in therapeutische Behandlung, und Kommissariat und Psychiatrie finden auf Handlungsebene direkt zusammen: es ist das Kind, das den Namen des Mörders nennen wird.

Geschädigte Menschen

Doch das ist eben nur das vordergründig Spannende an Hochgatterers Buch. In bewährter Manier treibt er die Handlung kapitelweise aus wechselnden Erzählperspektiven voran, und wir lernen eine Reihe von mehr oder minder schwer geschädigten Menschen kennen. Den Pater, der seine Psychose nur im Zaum hält mit Langstreckenläufen und pausenlosem iPod-Konsum - mitunter auch während seiner kirchlichen Handlungen. Oder Daniel und Björn, die beiden wohlstandsverwahrlosten Söhne des neureichen Autohändlers, die vom Star-Wars-Trip nicht mehr herunterkommen und in den Masken der Filmwelt brutale Tierschlachtungen und Schlimmeres vornehmen. Die junge Mutter, die in einer radikalisierten Form der postnatalen Psychose ihr Kind für den Teufel hält, der gewalttätige Familienvater, der seiner fünfjährigen Tochter beide Beine an einer Eisenstange zerschmettert. Sie alle sind neben "normalen" Junkies oder Geschäftsführerinnen mit "harmlosen" Körperticks regelmäßige Klienten bei Raffel Horn. Der tut wenig, außer medikamentieren; wahrscheinlich kann er auch nicht sehr viel mehr tun. Was der Autor vielleicht tun hätte können, wäre mehr nach den Lebensumständen der Akteure zu fragen; ihn interessieren primär die familiären Strukturen, in denen sie leben, er fragt sich und seine Klienten kaum je nach den Arbeitsverhältnissen, in denen sie stecken, nach ihren beruflichen Ängsten und den gesellschaftlichen Mechanismen, die die Menschen in ihre Fluchten treiben.

Der fortwährende Kontakt mit deformierten Charakteren fällt auch auf die Therapierenden zurück; Horns eigenes Privatleben ist durchaus krisenhaft, und ohne Macken geht es bei keinem der Akteure im Kommissariat wie in der Klinik ab. Jeder hat seine eigenen kleinen Verrücktheiten, alle werden beschrieben, und manchmal ist die Vielzahl der Nebenfiguren nicht leicht auseinander zu halten. Das ist der Preis für Hochgatteres elliptische Anlage seines "Thrillers" um zwei Zentren der gesellschaftlichen Verwaltung von sozialer Devianz, und das ist andererseits auch ein Grund, weshalb man diesen Roman im Gedächtnis behalten wird. Hochgatterer ist ein Autor, der erzählerisch souverän mit Leerstellen und "Hohlräumen" umzugehen versteht - keineswegs nur im Dienste der Spannungssteigerung, sondern auch, um die ganz alltäglichen Abgründe in unser aller Leben präsent zu halten.

Die Süße des Lebens

Roman von Paulus Hochgatterer

Deuticke im Hanser Verlag, 2006

294 Seiten, geb., e 20,50

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