Iso Camartin schreibt über Heimat, indem er eine Figur erfindet: Herr Casparis,

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der über das Leben und das Lesen räsoniert.

Die Geschichten des Herrn Casparis" des aus der rätoromanischen Schweiz stammenden Iso Camartin haben eine originelle Entstehungsgeschichte. Der Literaturwissenschafter, Musikfachmann, Philosoph und Schriftsteller (geb. 1944) erhielt die Einladung, einen Essay zum Thema "Heimat" zu schreiben. Er wollte weder nur Persönliches von sich geben, noch zu sehr ins Allgemeine schweifen, daher erfand er eine Figur, Herrn Casparis, einen älteren Bibliothekar. Dieser entwickelte Eigenleben und Eigendenken für weitere Themen, und so liegt jetzt ein reizvolles Panorama vor: Ein Buch, das einen unhektischen Lesestil verlangt. Seitenfressen brächte einen um den Lesegewinn.

Heimat finden

Schweizern sagt man ein besonderes Verhältnis zur Heimat nach, entweder ein glühend patriotisches oder ein an der Kleinheit und geistigen Enge verzweifelndes. Herr Casparis ist jeder Schwarzweißmalerei und dem Kantönligeist abhold. Heimat kann als Gefängnis des Immergleichen empfunden werden oder als ein Ort, an dem man seelisch ausruhen kann. Heimat bedeutet, dass man nicht hinausgeworfen werden kann, denn man hat ein Recht auf Papiere. In der Heimat muss man vieles nicht aussprechen, weil es sich selbst versteht. Heimat ist auch nicht unbedingt mit einem Ort verknüpft: Man kann sie in einem anderen Menschen finden oder in etwas, das man liebt - der Musik zum Beispiel.

Herr Casparis kennt sich gut aus in der Bibel, wo vom Bauen des Tempels die Rede ist und von der Sehnsucht des Petrus, am Ort der Verklärung Jesu drei Hütten zu bauen. So macht Herr Casparis sich Gedanken über Architektur und Schönheit: "Was schön ist, hat etwas Zwingendes, Maßgebendes." Er erinnert sich an das "Deutsche Requiem" von Brahms und die wunderbaren Worte: "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!" "Doch sollten wir wirklich warten, bis wir tot sind, damit wir endlich so wohnen, dass wir glücklich werden?" Nicht melancholisch, nur ein wenig resignativ bleibt er in seiner Stadtwohnung, weil er keinen Architekten findet, der ihm "das Haus der Verklärung" baut.

Iso Camartin kommt ohne große Gesten aus, während er sich in ruhiger, elegant-ironischer Sprache zum Wesentlichen des Lebens vortastet, etwa zur Bedeutung des Lesens. Lesen, meint sein Alter Ego, sollte man nur Bücher, die die Welt mit den Mitteln des Geistes verändert haben; nur Autoren, deren Denken und Schreiben zum Glück unseres Daseins entscheidend beitragen.

Kapitalist der Gedanken

Lesen macht unabhängiger, befreit von den eigenen Zwängen und Beschränktheiten: "Man soll ein Kapitalist der Gedanken sein, wenn man schon keiner des Geldes ist, und darauf achten, dass diese sich vermehren …"

Herr Casparis ist nicht blind für Krankheit, Schmerz, Einsamkeit. Er weiß mit Shakespeares König Lear: "Wir sind nicht wir selbst, wenn leidende Natur den Geist zwingt, mit zu leiden mit dem Leib."

Nicht zufällig hat sich Herr Casparis als Schutzpatron Don Quixote erkoren: "Don Quixote war der Mann, der sich für alles, was aus seinem Blickwinkel unerfreulich und beleidigend erschien, eine erfreulichere Variante ausdachte und eine bessere und freundlichere Deutung ersann."

Warmes Wort

Liebenswert in seiner Absage an den Gleichberechtigungs-Zeitgeist wird Herr Casparis in seinem Frauenlob. Was ihn an Frauen begeistert? "Eine Art benigne Kernenergie ging von der weiblichen Aura aus, eine Invitationsstrahlung, mutig zu sein." Wer hätte so Schönes gesagt seit den Minnesängern des Mittelalters?

Größe erreicht dieses Buch dort, wo der unspektakuläre Held über Musik spricht, über Bach, Vivaldis Jahreszeiten, Schuberts Lieder: "Wer Schubert auf dem Pfad seiner Musik folgt, wird nie mehr gering denken vom Glück, das der Einzelne sucht, und vom Unglück, das ihn dabei trifft."

Essays sind im allgemeinen auf Geistesschärfe aus. Indem hier Gedanken einem erfundenen Menschen in den Mund gelegt werden, bekommt das Denken Fleisch und Blut, wird durchpulst von menschlicher Wärme. Ein reiches Buch für Menschen, die unterwegs sind zu sich selbst und ein Sensorium haben für das treffende Wort.

Die Geschichten des Herrn Casparis

Von Iso Camartin

C. H. Beck, München, 2008

271 Seiten, geb., € 20,50

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