Von der Moral im Container

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Mit der ersten Staffel von Big Brother (März-Juni 2000) begann in Deutschland eine neue TV-Ära: Der Mikrokosmos im Container spiegelt die Gesellschaft draußen wider.

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Mit der ersten Staffel von Big Brother (März-Juni 2000) begann in Deutschland eine neue TV-Ära: Der Mikrokosmos im Container spiegelt die Gesellschaft draußen wider.

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Die Reality Show Big Brother reagiert auf zwei gesellschaftliche Entwicklungslinien zu Beginn des 21. Jahrhunderts: die gesellschaftliche Akzeptanz von Dauerbeobachtungen und die zunehmende Bedeutung von Medienpräsenz für die Positionierung des Einzelnen in der gesellschaftlichen Hierarchie. Als Aktionsraum der Kandidaten wird der Container zur Schaubühne, die als moralische Lehranstalt, das gesellschaftlich adäquate Denken und Verhalten von Menschen präsentiert. Der Zuschauer gewöhnt sich an seine tägliche Begegnung mit der Containerwelt. In dieser gewohnten Umgebung wird er durch das Verhalten der Kandidatengruppe und durch ihre Gespräche mit dem akzeptierten Normsystem der Gesellschaft vertraut gemacht. Insbesondere Werte, die den wirtschaftlichen Erfolg fördern, werden in Big Brother vermittelt.

Konservative Moral vermittelt Das Konzept der diskursiven Ethik, wie es Jürgen Habermas entwickelte, erfährt in Big Brother seine televisionäre Umsetzung: Innerhalb der Gruppengespräche konfrontieren sich die Kandidaten mit anderen Systemen der Bewertung von Menschen. Sie diskutieren die Bedeutung von Attraktivität, Handlungs-, Unterhaltungs-, Sozial- und Wissenskompetenz. Zlatko - der Star der ersten Big Brother-Staffel - weiß zwar nicht, wer Shakespeare ist, kennt sich aber mit Kleidung und den Kriterien körperlicher Attraktivität im Fernsehen aus. Die Beobachtungssituation steuert das Gesprächsverhalten der Bewohner. Sie richten sich in gleicher Weise an die direkt präsenten Kandidaten und an die Zuschauer an den Beobachtungsgeräten, die in inszenierten Dialogen und Monologen angesprochen werden.

Der Kunsttheoretiker und designierte Rektor der Wiener Akademie de bildenden Künste, Boris Groys, stellt in seinem Buch "Unter Verdacht" (Hanser Verlag, 2000) fest, dass wir klarere moralische Positionen vertreten, wenn wir uns von Unbekannten beobachtet fühlen. Es entstehe "ein Gefühl der unbedingten Verantwortung vor dem Abwesenden". Genau diese klaren ethischen Positionen vertreten die Kandidaten in Statements, Diskussionen und Gesprächen. In den abendlichen Diskussionen thematisieren sie ihr Wertesystem, das sich deutlich an etablierten konservativen Wertesystemen und aktuellen Vorgaben der Political Correctness orientiert.

Bei der Diskussion über das Für und Wider von Atomkraftanlagen (29. März 2000) wird Bürgerpolitik propagiert; beim Thema "Für eine Million Mark Sex mit einem Freier" (5. April 2000), tun Jürgen, Kerstin und John alles für ihre Familie. Die Nähezur mehrheitsfähigen konservativen Moral ist in den Diskussionsbeiträgen offensichtlich. Nur Alex vertritt in seiner Selbstinszenierung als "lonesome heroe" einen subjektiven Ehrenkodex.

Wertesysteme verwirklichen sich im menschlichen Zusammenleben. Die täglichen Statements im Sprechzimmer, wo die Kandidaten allein in die Kamera sprechen, sind an die Zuschauer gerichtete Monologe, in denen die Kandidaten das Zusammenleben im Container schildern, das Verhalten der anderen bewerten und ihre subjektive Befindlichkeit thematisieren. Sie nehmen in ihren Statements eine moralische Einschätzung der aktuellen Gruppensituation und des Verhaltens der einzelnen Kandidaten vor. Jeder liefert seinen Tagesrückblick auf Aktivitäten, die Meinungen oder das Verhalten der anderen. Kritik wird häufiger im Sprechzimmer geäußert als in den Gesprächen untereinander.

Der Zuschauer legt in seiner Beobachtung Kriterien für richtige Meinungen und normgerechtes Verhalten fest. Die durch die Isolation abgegrenzten zwischenmenschlichen Beziehungen der Kandidaten sind beispielhaft für aktuelle Wertestrukturen der Gesellschaft. In Statements und Dialogen geäußerte Werte können die Zuschauer anhand des sozialen Handelns der Kandidaten überprüfen. Zlatko schätzt seine "lockere" Selbstdarstellung als besonders publikumswirksam ein. Boris Groys stellt fest, dass brutale Direktheit als Ehrlichkeit interpretiert wird: "Ganz spontan assoziieren wir ,höflich' mit ,verlogen' und ,grob' mit ,direkt, authentisch und aufrichtig'."

Spiele als Verhaltenslaboratorium Werte fungieren als Grundlage von Verhaltensanforderungen. In Big Brother ersetzen die Anforderungen von Tages- und Wochenaufgaben, wie sie von der Spielleitung von außen gestellt werden, aktuelle berufliche Anforderungen: Es gilt, die gestellten Aufgaben in wechselnden Teams zu erfüllen, gleichzeitig muss sich der Einzelne seine Machtposition in der Gruppenhierarchie sichern. Die Bildung strategischer Allianzen zur Erfüllung begrenzter Anforderungen sind also ebenso gefragt wie das geschickte Intrigieren gegen Konkurrenten in der Gruppe. Insbesondere Fehler bei den Intrigen gefährden die eigene Position.

Der Big Brother-Container fungiert wie das vom französischen Philosophen Michel Foucault beschriebene "Panopticon" als "Laboratorium, [...] als Maschine für Experimente, zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen" (Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Suhrkamp 1994). Im Falle der Verweigerung etwa das Nichtabsolvieren der Wochenaufgabe des Wollespinnens wegen des schönen Wetters treten die etablierten gesellschaftlichen Interventionstaktiken auch im Big Brother-Container in Kraft. Hier wie dort ist die zentrale Interventionsmassnahme der Entzug von finanzieller Zuwendung, der die erschwerte Möglichkeit zur Selbstversorgung zur Folge hat.

Auch Konfliktstrukturen innerhalb der Gruppe sind gesellschaftstypisch. Konflikte entstehen um die Machthierarchie, um die gerechte Verteilung von Arbeit, um kontrastierende Wertesysteme, die sich in unterschiedlichen Verhaltensanforderungen niederschlagen. Die Gruppe legt das richtige Verhalten fest und diszipliniert den Einzelnen. Der Mikrokosmos Big Brother-Container besitzt das Potenzial als televisionäre Erziehungsanstalt des Makrokosmos Gesellschaft zu fungieren. Fernsehzuschauer werden mit den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen vertraut gemacht.

New Economy im Big Brother-Haus Zu den aktuellen Veränderungen des Arbeitslebens - etwa in Unternehmen der New Economy - gehört die Motivation der Mitarbeiter durch die Integration von Unterhaltungselementen in den Arbeitsablauf. Auch im Big Brother-Haus entsprechen die Kandidaten aktuellen Anforderungen sowohl der Arbeitswelt als auch der strategischen Kooperationen und der kontinuierlichen Umverteilung von Arbeitsprozessen je nach individueller Kompetenz.

Praktische Kompetenzen sind ebenso Gegenstand der spielerischen Wochenaufgaben wie Wissen, das schnell erworben werden muss und in Einzelabfragen geprüft wird: "Die Prüfung kombiniert Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt." (Michel Foucault) Auch Gedächtnisleistungen zählen zu beruflichen Kompetenzanforderungen, doch wird in den Spielen nicht nach der Bedeutung des angeeigneten Wissens (Hauptstädte von Ländern und ihre Bewohnerzahl, Taxirouten in deutschen Großstädten) gefragt, es zählt die Bereitschaft in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Fakten abrufbar zu halten und diese in einer Prüfungssituation adäquat vermitteln zu können. In diesenn Wochenaufgaben sind Strukturen der industriellen Produktion erkennbar wie zahlenmäßige Akkordvorgaben etwa beim Legosteine verbauen und Eier bemalen.

Wechselnde Wochenaufgaben, deren Absolvierung über die Versorgungslage der Gruppe entscheiden, erfordern strategische Kooperationen, die "die Kunst der Zusammensetzung von Kräften zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates" (Foucault) spiegeln. Vorhandene Kompetenzen der Kandidaten werden je nach situativer Anforderung neu kombiniert. Der Sieger John verkörpert das derzeitige gesellschaftliche Ideal des "Ego-Taktikers", der kommunikativ ist, sich selbst imageorientiert darstellt, seine Strategien wechselt, sich schnell veränderten Anforderungen anpasst und sie zur Optimierung der eigenen Situation zu nutzen weiß.

Der eigentliche Gewinner von Big Brother ist die Produktionsfirma Endemol. Sie erreicht mit dem Konzept Big Brother das von Foucault beschriebene gesellschaftliche Ideal der Kapitalisierung von Zeit, da sich mit dem Ablauf von 100 Tagen eine profitable Dauerhaftigkeit organisieren ließ. Der menschliche Alltag als Attraktion der Sendung lässt sich durch Werbeeinnahmen zu Geld machen. Zielpunkt des Bewährungsprozesses der Kandidaten ist "die endgültige Tauglichkeit des Individuums" für die mediale Selbstrepräsentation und somit für die Weitervermarktung in der Unterhaltungsindustrie. Das Fernsehen fördert damit die Werte, die seinen Produktionsinteressen entsprechen.

Die Autorin ist Dozentin für Germanistik - Schwerpunkte: Medienästhetik, Narrationstheorie, zeitgenössische Literatur - an der Universität Hamburg.

Big Brother-Teilnehmer: 1. Staffel (03-06/2000) Kerstin, 26, Schauspielerin Alex, 37, Kneipenbesitzer Manuela, 23, Jusstudentin Jürgen, 36, Feinmechaniker Zlatko, 24, Mechaniker (arbeitslos) John, 26, Tischler (arbeitslos)/Sieger Jana, 24, Telefonsex-Anbieterin Thomas, 24, Informatikstudent Despina, im Computerbereich tätig Andrea, 34, Event-Managerin Ersatzkandidaten: Jona, 20, Model, (Lebens-)Künstlerin Sabrina, 32, Dachdeckerin Verena, 28 Ex-Stewardess, Studentin Big Brother-Regeln: 100 Tage Mehrsamkeit * 12 Teilnehmer bewohnen den Container. 29 Kameras schauen zu.

* Komplette Abschirmung von der Außenwelt. Jede Woche ist gemeinsam eine Aufgabe zu lösen: bei Erfüllung gibt es (finanzielle) Belohnung, bei Nichterfüllung eine Strafe.

* Jeder Teilnehmer gibt täglich - allein - im Sprechzimmer vor der Kamera einen Bericht ab und "nominiert", wer von den anderen das Haus verlassen soll.

* Alle 14 Tage bestimmt das TV-Publikum, wer von den zwei Meistnominierten das Haus verlassen muss.

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