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Bauer im Schachspiel

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In Brasilien wird es als Sensation empfunden, daß Ulysses Guimaräes als Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei („MDB“ — „Brasilianische Demokratische Bewegung“) in der Hauptstraße von Niterio an der Bucht von Rio de Janeiro mit Spruchbändern und Lautsprecherwagen demonstrieren und regierungsfeindliche Reden halten konnte. Das Aufsehen wird begreiflich, wenn man bedenkt, daß in Bwsilien keine „oppositionelle Demonstration“ zugelassen wurde, seitdem die Militärregierung Castello Branco 1964 die Macht ergriffen hat. Aber in dieser Lockerung ein Indiz dafür zu sehen, daß das größte Land Lateinamerikas vor einer neuen Epoche der Demokratisierung stehe, wäre verfehlt.

Am 15. Jänner 1974 wird der Nachfolger des derzeitigen Präsidenten, des Generals Emilio Garrastazu Medici, gewählt. Freilich hat das Volk, das zuletzt 1960 einen Präsidenten wählen konnte, diesmal nichts zu sagen. Durch ein neues Gesetz ist das Wahlkollegium bestimmt, das aus 66 Senatoren, 310 Abgeordneten des Bundes- und 127 Abgeordneten der Staatsparlamente besteht. Gleichzeitig wurde Fraktionszwang angeordnet. Da die Regierungspartei „ARENA“ in fast allen gesetzgebenden Versammlungen über die absolute Mehrheit verfügt, ist an der Wahl des von Garrastazu Medici zum Nachfolger bestimmten Generals Ernesto Geisel nicht zu zweifeln.

Die Oppositionspartei „MDB“ war ein Bauer im Schachspiel des Präsidenten Castello Branco, der mit ihrer gleichzeitigen Zulassung und Entrechtung die Fiktion eines demokratischen Regimes zu schaffen suchte. Bei solcher Aussichtslosigkeit wäre es also nahegelegen, daß die „MDB“, deren Präsident der 56 jährige Ulysses Guimaräes ist, Stimmenthaltung proklamiert hätte. Da das Volk nicht wählt, sondern die Abgeordneten, ist Wahlpropaganda auch sinnlos. Trotzdem sieht Guimaräes in der Wahlkampagne eine Möglichkeit, für das Programm des „MDB“ — oder besser gesagt: gegen das Regime — zu kämpfen. Zu den vielen Widersprüchen, die sich in der brasilianischen Realität aufzeigen lassen, gehört, daß die scharfe Zensur oppositionelle Stimmen in der Presse unterdrückt, sie aber auf dem

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Umweg über den Wahlkampf zuläßt. Die Hoffnungen das „MDB“, gegen das Regime im Rahmen der Wahlkampagne frei kämpfen zu können, erfüllen sich freilich nicht. Zwar dürfen die Reden von Guimaräes und des oppositionellen Kandidaten zur Vizepräsddentschaft, Barbosa Lima Sobrinho, gedruckt werden, aber dem „MDB“ wurden TV und Rundfunk mit der Begründung verweigert, daß diese Massenmedien der Opposition nur bei direkten Wahlen zur Verfügung stünden.

Bisher zumindest deutet nichts darauf hin, daß das Regime zur Demokratisierung bereit wäre. Während der erste Revolutionspräsldent, Castello Branco, es 1964 sein Ziel nannte, die „Legalität und das Wiedererstarken der Demokratie herzustellen“, sein Nachfolger, Marschall Costa e Silva, 1967 die Ausübung der Demokratie „eine Forderung meiner Regierung“ nannte und der dritte Militärpräsident, General Garra-stazü Medici, 1969 sagte, er hoffe, am Ende seiner Regierungsperiode „definitiv die Demokratisierung in unserem Lande hergestellt zu haben“, hat General Ernesto Geisel bei seiner ersten Kandidatenrede vor der Regierungspartei „ARENA“ nicht einmal Versprechungen in dieser Hinsicht abgegeben, sondern den „revolutionären Willen“ zur Grundlage seiner politischen Absichtserklärung gemacht.

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