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DEN TOD ABSSCHAFFEEN

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Die Naturwissenschaft scheut den Tod, denn sie kann nichts Meßbares über ihn aussagen. Sie überläßt ihn dem Leichenbeschauer und dem Totengräber; oder, was für sie das gleiche ist, sie überläßt ihn dem Metaphysiker. Vor dem Tod fällt ihr nichts Gescheites ein, so wenig wie vor der Geburt.

Kein medizinisches Attest kann uns sagen, wann der Embryo zum Menschen geworden ist, worin die Menschwerdung besteht oder was der Embryo war, bevor er ein Mensch wurde.

Alles, was wir tun können, ist die Zellen zu zählen und diejenigen Faktoren, die wir in den verschiedenen Stadien der Entwicklung isolieren können, zu untersuchen. Wäre das Lebewesen eine Flasche voller Chemikalien, so wäre das genug.

Aber in der geheimnisvollen Übereinkunft zwischen Samen und Ei ist mehr geschehen als bloß ein Austausch von Neuigkeiten; und dieses Mehr können wir so wenig verstehen wie das Weniger des Todes.

Wir stoßen also mit dem Kopf gegen eine Wand, gegen eine

Grenze: Grenze derGeburt, Grenze des Todes. Ist das so, weil der Lebende das Leben nicht erforschen kann, so wie der fliegende Pfeil seine eigene Geschwindigkeit nicht messen kann? Denn täte er es, so wäre es eine andere Geschwindigkeit, und wenn er es zu oft versuchte, fiele er zu Boden.

Trotzdem ist die Wissenschaft unermüdlich, sie krempelt sich die Ärmel auf und stellt unverzagt sogenannte Todesursachen fest: Krankheiten, die zum Tode geführt haben. Aber der Tod selbst ist ja keine Krankheit...

Die Medizin ist aber berufen, Krankheiten zu heilen; und so muß schließlich auch der Tod für sie eine Krankheit sein. Nur sagt sie es vorläufig nicht laut. Bin ich wirklichdereinzige Naturwissenschaftler, derein Beben unter dem Boden spürt? Ich habe den Eindruck, daß die biologischen Wissenschaften - vielleicht ohne sich selbst Rechenschaft darüber zu geben - an der Abschaffung des Todes arbeiten.

Der Autor ist emeritierter Professor für Biochemie und Autor zahlreicher Bücher, sein Beitrag ist ein Auszug aus EINGRIFFE IN DAS LEBEN. Von H. M. Gardner (Hrsg.), Solaris Verlag, Innsbruck 1986, 174 Seiten.

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