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Flüchtlingsschicksale

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Der Roman „Zuflucht in Shanghai” wird kommenden Generationen als Beitrag zur großen Weltliteratur überliefern, was Entwurzelung und Flüchtlingsschicksal bedeuten. Der Autor, so wie die Hauptfigur seines Romans ein in Wien geborener Christ jüdischer Abstammung und Arzt, hat den Zweiten Weltkrieg mit zwanzigtausend Schicksalsgenossen in Shanghai überlebt.

Der Leser erfährt den Hintergrund des Protagonisten des Romans, Arthur Freienfels, der mit seiner dem Landadel entstammenden Gattin und ihren beiden Kindern in Shanghai Zuflucht findet. Eine kurz gefaßte Geschichte von Shanghai erscheint zusammen mit aufschlußreichen Bemerkungen über die verschiedenartigen Bewohner, die aus allen Teilen der Welt kommend die kosmopolitische Millionenstadt damals, im Jahr 1938, bevölkerten.

Von allgemeinem Interesse sind hier die Hinweise auf die verschiedenen Gruppen russischer Emigranten und die verschiedenen jüdischen Gruppierungen. Wir erhalten hier auch ein Bild über die Beziehungen der verschiedenen Gruppierungen zueinander und zur einheimischen Bevölkerung.

Besonders dramatisch erscheinen hier die Probleme von Desorientierung und Re-orientierung infolge des Schocks der Entwurzelung, welche menschliche Stärken und Schwächen zum Vorschein bringen. Manche Flüchtlinge finden in der Verwirrung und Not zu sich selbst und zu ihren Schicksalsgenossen in menschlicher Hilfsbereitschaft; andere wiederum werden demoralisiert und korrumpiert. Beide Entwicklungen erscheinen dabei mit besonderer Dramatik bei den Ärzten.

Mit dem feinen Einfühlungsvermögen eines Schriftstellers von großem Rang beschreibt der Autor die Beziehungen der Familie Freienfels zueinander, sowohl zwischen den Ehepartnern wie die zwischen den Eltern und ihren Kindern. Diese sind eben Jugendliche, die in einer fremden Welt ihren eigenen Weg finden müssen, aber dennoch einander und ihren Eltern verbunden bleiben, wenn auch unter dementsprechenden Spannungen.

Zahlreiche Episoden wirken als blitzartige Momente der Wahrheit: Da ist ein vormaliger Sinologe einer deutschen Universität. Dieser bewahrt, halb verhungert, verwahrlost, unrasiert mit schmutzigen Hemdkragen, einen Teil seiner früheren Identität und damit seine Selbstachtung mit Vorträgen über chinesische Kultur.

Eine Zeitlang verdiente Freienfels, der Arzt aus Wien, den Lebensunterhalt für seine Familie als Arzt für eine britische Schifffahrtsgesellschaft. Als solcher untersuchte er die chinesischen Besatzungsmitglieder ausfahrender Schiffe und impfte diese gegen allerlei Krankheiten. Als „Angehöriger einer feindlichen Macht” verlor der jüdische Flüchtling bald nach Ausbruch des Krieges in Europa seinen Arbeitsplatz.

Gleichzeitig finden wir hier einige Hinweise auf die Hetze gegen Emigranten aus dem Dritten Reich, die von den deutschen Konsulatsbeamten in Shanghai ausging. Nach der japanischen Besetzung von Shanghai wurden die „staatenlosen Flüchtlinge”, das heißt Emigranten aus Deutschland und Österreich, in ein zerfallenes chinesisches Armenviertel eingewiesen und dort von den Japanern als Europäer schikaniert. Dabei zeigten die Japaner allerdings wenig Verständnis für die vom deutschen Konsulat ausgehende antisemitische Hetze.

Im direkten offenen Gegensatz zum deutschen Konsulat erscheint hier auch ein Vertreter des „anderen Deutschland”, ein urwüchsiger Berliner, der in den Zwanzigerjahren in Shanghai als Kaufmann erfolgreich festen Fuß gefaßt hat. Er nimmt sich der Emigranten aus seiner Heimat an, wo er kann. Dabei kommt sein Verständnis für die Sitten, Gebräuche und Werte der Chinesen zum Tragen. •

Wie in allen Werken großer Literatur erscheint hier das Gute in Konfrontation mit dem Bösen, verbunden und benachbart menschlichen Schwächen und Verwirrungen, gewürzt mit einer angemessenen Dosis von Humor.

Es ist viel von und über Flüchtlinge geschrieben worden. Kaum ein anderes Buch vermittelt so viel Einblick und Verständnis.

ZUFLUCHT IN SHANGHAI. Von Alfred W. Kneucker. Hrsg. von Felix Gamillscheg. Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Wien-Köln-Graz 1984. 264 Seiten, öS 268,-.

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